Eine Alternative, die keine ist

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Warum wir verrückt nach allem sind, was alternativ zu sein scheint.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell sich eine miserable Gegenwart in eine gute alte Zeit verwandelt.

Gustav Knuth

Es war ein Mythos, zu glauben, die Aufklärung würde den Menschen eine wissenschaftlich-naturalistische Weltsicht aufprägen und sie vom Joch der bigotten Religionen befreien. Der Idealismus scheiterte an der Wirklichkeit. Die Fortschritte der Medizin im 20. Jahrhundert, unser Lebensstandard, die grenzenlose Mobilität und ein voller Bauch machten die Menschen nicht glücklicher, ja nicht einmal nachdenklicher. Die Früchte der Wissenschaft, die uns ein langes Leben in Frieden und Wohlstand ermöglichten, hat man nicht etwa mit einem Erntedankfest geehrt, sondern die Wissenschaft als den modernen Baum der Erkenntnis verdammt. Die Wissenschaft hat uns des tröstenden Märchens von der beabsichtigten Weltentstehung in sieben Tagen beraubt, hat uns die Zuversicht genommen, wir würden ewig existieren (wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten), und hat uns vom Thron der Schöpfung - wo wir laut allen Weltreligionen hingehörten - gestoßen. Die tägliche Nachrichtenflut verunsichert uns und macht uns ängstlich: Umweltverschmutzung, Überschwemmungen, Hurrikans, Erdbeben, Terrorismus, Aids, Gewaltkriminalität, Arbeitslosigkeit, Genmanipulation... Wir verlieren den Überblick und suchen verwirrt und verworren nach Alternativen und Auswegen. Wir sehnen uns nach der guten alten Zeit zurück, in eine Welt, in der wir als fromme Christenmenschen oder "edle Wilde" eins mit Gott und Natur waren. Wir sehnen uns nach einer Welt, in der jedes dritte, vierte Kind nicht älter als fünf wurde, in der jede Frau durchschnittlich zehn Schwangerschaften ertragen und überleben musste, in der man 12 bis 14 Stunden lang sein Land bestellen musste, um sich, die wachsende, nicht satt zu kriegende Kinderschar und den maßlosen Landsherrn zu ernähren. Wir wünschen uns eine Welt zurück, in der Doppelmoral der Mächtigen das Leben der einfachen Leute bestimmte, in der Knechtschaft, Sklaverei und Tod zum Leben gehörten wie heute Werbung zum Film. Wir sehnen und nach Natürlichkeit und Naturverbundenheit, in der Bader und Strolche Exkrementenmixturen und verwesende Überreste vermeintlich Heiliger als Wundermittel anpriesen, in der Ratten und Flöhe in ihrer vollsten Natürlichkeit unsere treusten Begleiter waren und Seuchen ganze Dörfer auslöschten und Städte leerfegten. Eine glückliche Zeit ohne "Diktat der leblosen westlichen Medizin", in der ein karieszerfressener Zahn mit Werkzeugen behandelt wurde, die wir heute höchstens aus dem Gruselkabinett der Inquisition im Museum kennen, in der eine harmlose Schnittwunde oder eine Grippeinfektion tödlich enden konnten.

Eine wahrhaftig heile Welt. Nehmen wir die Realität wirklich so verzerrt wahr? Wünschen wir uns "die gute alte Zeit" wirklich zurück? Vielleicht nur die fanatischsten Feinde des Fortschritts, die definitiv eine Minderheit bilden. Die meisten anderen sind in der Mitte angesiedelt, pendeln hin und her, lassen sich belehren, indoktrinieren und manipulieren. Wo man landet, hängt stark von der Bildung, dem sozialen Umfeld und dem jeweiligen Kulturkreis ab. Laut dem amerikanischen Physiker Robert Park sind die meisten von uns gar nicht antiwissenschaftlich eingestellt. Im Gegenteil: wir sind wissenschaftsbegeistert, wir lieben einschlägige wissenschaftliche Dokumentationen und Shows und deren Erzeugnisse wie die modernen multimedialen Spielzeuge. Die meisten Menschen, die Wissenschaft als etwas Positives sehen, sind gebildet und berufstätig. Das Problem ist dabei, dass dieses Wissen oberflächlich ist und dass die meisten keinen Schimmer haben, was die Wissenschaft ausmacht. Und das ist der eigentliche Stolperstein.

Was genau macht eine (Natur)wissenschaft aus? Ist das der weiße Kittel, der Doktortitel oder der Fachkauderwelsch? Ein Labor mit Gerätschaften, in denen Flüssigkeiten blubbern und dabei farbigen Rauch produzieren, eine sterile Ambiente durchsetzt mit Oszilloskopen, Prismen und Computermonitoren? Spricht das zwangsläufig für Wissenschaft? Nein. All das kann mit Wissenschaft zu tun haben und tut es oft auch. Aber nicht zwingend.

Was kennzeichnet dann eine Wissenschaft? Eigentlich ein recht simples Schema, außerhalb dessen Grenzen die Wissenschaft an Gültigkeit verliert. Dieses Schema, das eine Reihe von Kriterien erfüllen muss, heißt wissenschaftliche Methode. Und diese besteht aus folgenden Punkten:

  1. Empirie - Beobachten, Sammeln von Daten und Fakten
  2. Aufstellen einer Hypothese
  3. Verifikation der Hypothese
  4. Mögliche Falsifikation der Hypothese
  5. Aufstellen einer widerspruchslosen Theorie, falls die Hypothese die Falsifizierbarkeit erfüllt, die durch Prognosefähigkeit und Reproduzierbarkeit gekennzeichnet ist
  6. Veröffentlichung unter gängigen Kriterien der Evaluation

In der Schule, im Zuge der Ausbildung, der beruflichen Laufbahn wurde das nur den wenigsten beigebracht. Nicht viel anders erging es mir, als ich, während ich noch zur Schule ging, verrückt nach Freuds Tiefenpsychologie war und sie für die Erleuchtung hielt, als ich dachte, dass Lügendetektor Verbrecher und Schwindler überführe und Graphologie persönliche Eigenschaften offenlege. Ich dachte, die Fußsohle repräsentiere alle Organe des Körpers, und die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), insbesondere Akupunktur, sei ein Jahrtausende altes Wissen, das die verborgenen Kräfte des Körpers mobilisiert. Ich war neugierig auf die Mysterien dieser Welt, und die Antworten fand ich in entsprechenden Fernsehberichten, Zeitschriften und der populären Literatur. Ich war in der Tat überzeugt, wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse zu konsumieren. Später wurde ich eines besseren gelehrt.

Was gab mir die Zuversicht, dass die Beschäftigung mit diesen Dingen keine ernstzunehmende Wissenschaft war? Grenzenlose Naivität? Ich denke, ich war weder leichtgläubig noch besonders unkritisch. An die Existenz von Ufos glaubte ich seit der Grundschule nicht mehr, und dem Esoterikglauben begegnete ich schon immer mit natürlicher Abscheu. Yeti, Big-Foot und Nessie verloren für mich ihren Reiz, als außer verschwommenen Fotos, die mit einer Lochkamera aus dem 19. Jahrhundert hätten besser gemacht werden können, keine weitere "Beweise" mehr auftauchten. Das eigentliche Problem war: Ich kannte die Regeln nicht, nach denen die Naturwissenschaft funktioniert.

Wie ist es in der breiten Bevölkerung um das Wissenschaftsverständnis bestellt? Die Demographen verzeichnen eine seit Jahren immer wachsende Kluft zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Das Wissenschaftsverständnis (Public understanding of science) stagniert kontinuierlich und wird mit einem breiten Interesse an paranormalen Phänomenen kompensiert. (siehe auch: Wissenschaftlicher Analphabetismus) Alles, was das Präfix 'Para' trägt, erlebt eine Hochkonjunktur. Und mit dem kritischen Denken geht es dabei bergab. Deutlich wird dies in der Werbung, die sich des blinden Glaubens an die Autorität des weißen Kittels bedient. "Laborgeprüft" oder "wissenschaftlich getestet" gelten als verkaufsfördernd. Was das eigentlich bedeutet, wird kaum hinterfragt. Dabei spielen die (Allgemein)bildung und das Wissenschaftsverständnis in unserer Gesellschaft, sowie vorurteilsfreier Skeptizismus eine der Schlüsselrollen. Für die Sicherung und Erhaltung der Demokratie, der ökonomischen und ökologischen Sphäre und der politisch-sozialen Lage sind diese Mittel unabwendbar.

Viele, die nach Alternativen suchen, tun dies nicht, weil sie sich mit Placebos abspeisen wollen oder an die Wirksamkeit ritueller Handlungen glauben. Sie suchen nach Alternativen, weil sie überzeugt sind, dass es sich dabei um vollwertige Wissenschaften handelt. Das sind sie aber nicht! Um dies zu erkennen bedarf es nicht eines außergewöhnlichen Scharfsinns. Man wende einfach die oben aufgeführte Schablone an.

Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Betrachten wir einmal, wie die Hochschul- und die Alternativmedizin Krankheitsbilder auffassen, deren Ursachen verstehen und dabei vorgehen, Heilmethoden zu entwickeln:

Hochschulmedizin

  1. Empirie: Die Hochschulmediziner sammeln Daten, Berge von Daten: in welchem Alter die Krankheit, die man untersucht, auftritt, in welcher Bevölkerungsgruppe, bei welchem Geschlecht, bei welcher Lebensweise usw.
  2. Wenn man meint, der Ursache der Krankheitsentstehung auf die Schliche gekommen zu sein, wird eine Hypothese aufgestellt. (z.B. unsere Magenschmerzen werden durch ein Bakterium namens Helicobacter pylori verursacht).
  3. Es wird eine möglichst großflächige Untersuchung durchgeführt, ob die o.g. Hypothese sich auch statistisch belegen lässt. Es scheint tatsächlich der Fall zu sein. Es stellt sich heraus, dass ein überwiegender Teil der Magengeplagten von Helicobacter pylori infiziert sind.
  4. Ein rivalisierendes Labor hat eine andere Idee und versucht verzweifelt, die Theorie der Bakterieninfektion zu widerrufen. Gelingt es der Konkurrenz nicht (oder der gesamten anderen Wissenschaftscommunity), stichhaltige Gegenbeweise zu erbringen, so hat die Hypothese die Falsifikation bestanden. (Dies ist natürlich keine Garantie auf Lebenszeit. Jahre, Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte später können immer noch andere Zusammenhänge entdeckt werden).
  5. Die Hypothese wird zu einer Theorie. Alle gesammelten Daten sprechen eine klare, deutliche Sprache. Wiederholte Studien führen zu dem selben Ergebnis.
  6. Es folgt eine Veröffentlichung in einem anerkannten Fachblatt (nicht in Bunte oder Bild der Frau!). Bevor die Studie veröffentlicht wird, wird sie von unabhängigen Wissenschaftlern auf Signifikanz geprüft. (Peer-Review). Sind die Daten echt, die Ergebnisse schlüssig, wird der Artikel gedruckt.

Paramedizin

  1. Der Empirie wird nicht besonders viel Bedeutung beigemessen. Der Selbstversuch Hahnemanns mit Chinarinde reicht anscheinend aus, daraus direkt eine Tatsache abzuleiten.
  2. Mit Hypothesen geizen die Alternativmediziner nicht. Alles, was in das Schema passt, wird zu dessen Bestätigung herangezogen. Der Rest wird nicht bemerkt oder bewusst aussortiert.
  3. Wiederholte Beobachtungen, Experimenten und Statistiken meiden Pseudowissenschaftler wie Katzen das Wasser.
  4. Widerlegbarkeit wird in eigenen Reihen nicht praktiziert. Wenn diese seitens der Naturwissenschaftler kommt, wird sie gleich als dogmatisch, autoritär und engstirnig abgetan. Pseudowissenschaft ist immun gegen Kritik und kann deshalb nicht widerlegt werden.
  5. Pseudowissenschaftler kennt weder Hypothese noch Theorie. Punkt eins ist gleichzusetzen mit einem Axiom, d.h. die Lehre wird zum Paradigma oder Dogma.
  6. Es existieren keine Magazine für pseudowissenschaftliche Disziplinen, die nach dem gleichen Schema wie renommierte wissenschaftliche Blätter aufgebaut sind.

Eine weitere Methode, Unsinn oder die Richtigkeit einer hypothetischen Annahme zu erkennen, ist die Ockhams Regel oder Ockhams Rasiermesser. Es ist eine Theorie des sog. Sparsamkeitsprinzips, die besagt, dass jene Erklärung bevorzugt behandelt wird, die einfacher und somit schlüssiger ist.[1] Ein Beispiel: Die Fossilienfunde lassen sich chronologisch den jeweiligen Schichten zuweisen. Schlussfolgerund: Es fand und findet also eine Evolution des Lebens statt. Ein Kreationist würde behaupten, alle Fossilien, die wir finden, entstanden während der Sintflut, oder Gott hat absichtlich die Knochen vergraben, um die Ungläubigen zu verwirren.

Inwieweit sich die Methodik der Letzteren eignet, einen Schritt näher zur Erkenntnis zu gelangen, ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Glaubenssache. Und der Glaube ist weniger durch Hoffnung als durch Ideologie, Autorität und Immunität gegen Kritik gekennzeichnet. Die objektive Erfassung der Realität ist ein Zeichen geistiger Reife und der Intelligenz. Wieviel Objektivität hinter ideologisch gespickten Alternativen steckt, muss jeder für sich selbst herausfinden.

Fußnoten

  1. Am treffendsten finde ich die Definition der Ockhams Regel von Carl Sagan: "Die Wissenschaft soll jene Erklärungen vorziehen, die auf der geringsten Anzahl von Annahmen beruhen."