Gastbeitrag: Dipl.-Geogr.
Johannes Winter |
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3. Entwicklung bedeutet Wachstum - Die Entwicklungspolitik in den
1950er und 1960er Jahren
Die Modernisierungstheorien lieferten Anfang der 1950er Jahre den
ersten universellen Erklärungsversuch für Unterentwicklung. Sie
versuchten anhand der sogenannten Modernisierungsstrategien eine
erfolgreiche Bekämpfung dieses Zustandes aufzuzeigen. Durch den
Zuwachs an Produktivität und Effizienz im Produktionssektor, den
Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur und eine erhöhte
Investitionstätigkeit sollte ein Wirtschaftswachstum eingeleitet
werden, welches zu einer Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens beitragen
sollte. Als entscheidende Antriebskraft für den Entwicklungsprozess
wurde die Kapitalzufuhr aus den Industrieländern angesehen. Die
Hoffnung bestand darin, mit Hilfe des Wirtschaftswachstums einen den
unteren Bevölkerungsschichten zu Gute kommenden "Trickle-down-effect"
zu bewirken.
Den Modernisierungstheorien liegt der Gedanke zugrunde, dass
Unterentwicklung das Resultat endogener Unzulänglichkeiten sei.
Beispielhaft sind das Verharren in traditionellen Gesellschafts- und
Wirtschaftsstrukturen, die geringe private Investitionstätigkeit
sowie Mängel in der Infrastruktur und im Bildungswesen. Eine
zentrale Bedeutung besitzt die Dichotomie von Tradition und
Modernität. Tradition wird als hinderlich für den
Entwicklungsprozess angesehen. Die Modernisierungsstrategien
konzentrieren sich - und das wurde ihnen später zum Vorwurf gemacht
- allein auf interne Hemmfaktoren für Entwicklung. Sämtlichen
Modernisierungsstrategien ist gemein, dass die Zielsetzung des
Transformationsprozesses - Entwicklung mittels Brechen mit
traditionellen Bezügen - durch die Imitation des westlichen
Entwicklungsweges realisiert werden soll. Die Industrieländer
besitzen bezüglich ihres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems
Modellcharakter für die Entwicklungsländer.
3.1. Die Bedeutung des Wirtschaftswachstums im
Modernisierungsprozess am Beispiel der Theorie "The stages of
economic growth" von Walt W. Rostow
Die Theorie der Stadien wirtschaftlichen Wachstums [16] des
US-amerikanischen Ökonomen Walt W. Rostow gehörte zu den
bedeutendsten Modernisierungstheorien der 1960er Jahre. Daher soll
sie hier stellvertretend für die zahlreichen, verwandten
Modernisierungstheorien erläutert werden. Rostows Stadienmodell
versucht aus wirtschaftshistorischer Sicht den sukzessiven Prozess
einer gesellschaftlichen Entwicklung zu erklären [17]. Rostow geht
davon aus, dass jede Gesellschaft fünf idealtypische
Entwicklungsstadien auf dem Weg von der Tradition zur Modernität
durchläuft. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die "Traditional
society" (Phase I). Diese kennzeichne sich durch einen hohen Anteil
an Beschäftigten im primären Sektor [18]. Die Agrarwirtschaft werde
vorrangig zu Subsistenzzwecken betriebenen und trage dadurch nur
bedingt zum Bruttosozialprodukt bei. Rostow sieht als bedeutendes
Hindernis für den Industrialisierungsprozess der traditionellen
Gesellschaft die begrenzten Produktionsmöglichkeiten, die
oligarchischen Machtstrukturen - verbunden mit geringer vertikale
Mobilität - und das hohe Maß an "Non-productive activities" an [19].
In Phase II werden die "Preconditions for take-off" geschaffen. Das
setzt voraus, dass eine modernisierungswillige politische Elite [20]
innerhalb der Gesellschaft besteht, die bereit es, den radikalen
Veränderungsprozess im primären und sekundären Sektor zu stützen
sowie Investitionen in neue Technologien und Infrastruktur zu
gewährleisten. Das Resultat derartiger Anstrengungen ist nach
Ansicht Rostows das Ansteigen der Produktivität und der
exportwirtschaftlichen Beziehungen. Die zentrale Phase (III) der
Theorie der Wachstumsstadien stellt das "Take-off-Stadium" [21] dar.
Die Phase wirtschaftlichen Aufstiegs ist gekennzeichnet von einer
erhöhten Produktivität - die aus der Anwendung innovativer
Produktionstechniken in der Landwirtschaft und im produzierenden
Gewerbe resultiert -, der sukzessiven Dominanz des modernen Sektors
über den traditionellen und einem deutlichen Produktions- und
Investitionszuwachs. Rostow sah im Kapitalmangel als Folge der
niedrigen Sparquote das entscheidende Problem einer
unterentwickelten Gesellschaft. Er folgerte, dass ohne eine
entsprechende Spartätigkeit und Kapitalzufuhr von außen ("Big
push" [22]) keine ausreichende Investitionstätigkeit erreicht werden
kann. Laut Rostow muss die Netto-Investitionsrate sowie die
Sparquote während des kritischen "Take-off-Stadiums" von fünf auf
mehr als zehn Prozent des BIP [23] ansteigen, sich ein
Manufaktursektor mit hohen Wachstumsraten etablieren sowie die
politischen, sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen
geschaffen werden, um ein fortlaufendes Wachstum zu
gewährleisten [24]. Unter "Drive to maturity" (Phase IV) versteht
Rostow die Ausdehnung des Wachstums auf unbedeutendere
Wirtschaftssektoren, das Etablieren moderner Technologien, einen
höheren Ausbildungs- und Spezialisierungsgrad der Arbeitskräfte
sowie gesamtgesellschaftliche Veränderungen [25]. Mit dem Erreichen
des "Age of mass consumption" (Phase V) ist der idealtypische
Reifeprozess abgeschlossen. Kennzeichnend dafür ist der
Bedeutungsverlust der Schwerindustrie bei gleichzeitiger Ausdehnung
der Konsumgüterproduktion. Die Bevölkerungsmehrheit hat aufgrund
ihres in Relation zur traditionellen Gesellschaft hohen
Volkseinkommens ein Konsumniveau erreicht, dass oberhalb der
elementaren Bedarfsdeckung liegt. Dies führt dazu, dass die
Wirtschaftspolitik der Steigerung des privaten Konsums Priorität
einräumt und sich der Wohlfahrtsstaat etabliert [26].
Die Kritik an Rostows Modell richtete sich gegen seinen
unilinearen Erklärungsansatz für Unterentwicklung. Er unterstellte,
dass alle Gesellschaften den Entwicklungsweg industrieller
Gesellschaften gingen und sich daher in eine der fünf
Wachstumsstadien einordnen ließen. Allerdings ließ sich anhand
seines Modells weder empirisch nachweisen, weshalb ein Land im
Gegensatz zu einem anderen ein Stadium erfolgreich absolviert hatte,
noch prognostizieren, inwieweit die Entwicklungsanstrengungen ein
Weiterkommen auf der Skala bewirken. Rostow bewertete ihm unbekannte
Gesellschaften anhand westlicher Wertvorstellungen. Alternative,
endogene Entwicklungswege, wie das bewusste Einsetzen kultureller
Traditionen, wurden von vorne herein ausgeschlossen. Des weiteren
setzte Rostow voraus, dass sich der Entwicklungsprozess nach
hierarchischem Muster vollziehen würde. Jedes Wachstumsstadium ließe
sich von einer höheren bzw. niedrigeren Ebene abgrenzen. In Rostows
Modell bestehen zwischen den Ebenen in erster Linie quantitative
Unterschiede, die sich beispielsweise anhand der Ausprägung der
Spar- und Investitionsrate signifikant darstellen lassen. Es handelt
sich um eine "Top-down-relation". Das impliziert, dass Entwicklung
von oben ausgeht, d.h. vom modernen auf den traditionellen Sektor
ausstrahlt und nicht aus traditionellen Strukturen heraus entstehen
kann [27]. Es verdeutlicht das Verständnis der
Modernisierungstheorien von Entwicklung. Der von der Mehrzahl der
Industrieländern vollzogene Entwicklungsweg gilt nicht nur als
erstrebenswert, sondern wird bezüglich des Umgangs mit den zur
Verfügung stehenden Ressourcen und der Zentralisierung auf die
Kapitalakkumulation und Investition, bei gleichzeitiger
Vernachlässigung soziokultureller und ökologischer Aspekte kritiklos
hingenommen. Die Theorie Rostows eignete sich vorrangig für eine
wirtschaftshistorische Erläuterung des Entwicklungsweges
industrieller Gesellschaften, jedoch nicht zwangsläufig - und das
wurde erst seit Ende der 1960er Jahre im Rahmen der
entwicklungspolitischen Debatte stärker betont - als Richtmaß und
Vorbild für die Mehrzahl der Entwicklungsländer.
3.2. Der Stellenwert der politischen Ordnung im
Modernisierungsprozess am Beispiel von Samuel Huntingtons Werk "Political
order in changing societies"
Das nur bedingte Einsetzen des prognostizierten
Wirtschaftswachstums in den Entwicklungsländer [28] führte bereits
Mitte der 1960er Jahre zu erster Ernüchterung in der internationalen
Entwicklungszusammenarbeit. Hans Besters und Ernst E. Boesch (1966:
II) konstatierten, dass "die Praxis (...) bis heute einen
anfänglichen Optimismus nicht besonders zu ermutigen scheint. Die
Entwicklungshilfe, mit viel Begeisterung und Zukunftsglauben
begonnen, hat die Aufmerksamkeit der Karikaturisten (...) gefunden.
Auch ernsthafte Kritik meldet sich". Derartige kam von der
"Kommission für Internationale Entwicklung", die - unter Vorsitz des
kanadischen Ministerpräsidenten und Friedensnobelpreisträgers Lester
Pearson - 1969 einen Evaluierungsbericht für die erste
Entwicklungsdekade vorlegte. Der sogenannte Pearson-Bericht kam zum
Entschluss, dass "ein Großteil der bilateralen Entwicklungshilfe
tatsächlich dazu diente, kurzfristige politische oder strategische
Vorteile zu erlangen oder Exporte der Geberlände zu fördern"
(Kommission für Internationale Entwicklung 1969: 22). Es ist
interessant, dass bereits während der ersten Entwicklungsdekade eine
solch fundamentale Kritik offenkundig auftrat [29]. Sie führte
allerdings nicht zu einer Neuausrichtung der internationalen
Entwicklungspolitik, sondern lediglich zur Modifizierung der
vorhandenen Strukturen.
Ein Beispiel dafür ist die große Bedeutung, die der
Veröffentlichung von Samuel Huntington beigemessen wurde. Sein Werk
"Political order in changing societies" (1968) erschien zu einem
Zeitpunkt, als bereits erste Zweifel am entwicklungspolitischen
Gelingen mittels Modernisierungstheorien aufgekommen waren. Der
US-amerikanische Politologe stellte die These auf, dass ein hohes
Maß an politischer Partizipation eine Gefährdung für die innere
Stabilität und den Wachstumsprozess der Transformationsgesellschaft
darstelle. Huntington lieferte die Rechtfertigung dafür, dass in der
Entwicklungszusammenarbeit auch totalitäre oder solche Staaten
unterstützt wurden, die eine Wahrung der Menschenrechte nicht
gewährleisteten [30]. Sein Hauptaugenmerk galt dem politischen
Verfall, welcher im Aufkommen von Gewalt und Korruption, dem Verlust
der politischen Ordnungskraft und im Bedeutungszuwachs von
revolutionären Bewegungen sichtbar werde (Huntington 1968: 86).
Zurückzuführen sei dieser auf das hohe Maß an demokratischer
Willensbildung und gesellschaftlicher Partizipation in der frühen
Phase der Modernisierung: "The relationship between social
mobilization and political instability seems reasonably direct.
Urbanization, increases in literacy, education, and media exposure
all give rise to enhanced aspirations and expectations which, if
unsatisfied, galvanize individuals and groups into politics. In the
absence of strong and adaptable political institutions, such
increases in participation mean instability and violence. (...) The
rapid expansion of education has had a visible impact on political
stability in a number of countries (Huntington 1968: 47).
Huntington nahm an, dass der Bildungszuwachs einhergehe mit einem
Erwartungszuwachs, welcher allerdings die Entwicklungsanstrengungen
insbesondere in der "Take-off-Phase" gefährden könne. Menschen mit
einem hohen Bildungsstand, die sich im Zustand der Arbeitslosigkeit
oder allgemeinen Unzufriedenheit befänden, gefährden die politische
Stabilität und Ordnung stärker als diejenigen, die aufgrund ihrer
Armut vorrangig mit der Befriedigung der materiellen
Grundbedürfnisse beschäftigt seien [31]. In einem folgenden Werk
erweitert Huntington diese These dahingehend, dass er politische
Partizipation als Begleiterscheinung des Modernisierungsprozesses
auffasst, die sich erst dann entfalte, wenn ein gewisser
sozioökonomischer Entwicklungsstand erreicht worden sei
(Huntington/Nelson 1976: 41).
3.3. Die Empathie als Schlüsselmechanismus im
Modernisierungsprozess unter Einbeziehung des sozialpsycholgischen
Ansatzes von Daniel Lerner
Samuel Huntington stütze sich auf die Annahmen des
US-amerikanischen Sozialwissenschaftlers Daniel Lerner (1958), der
Modernisierung als langfristigen Wandel vom traditionellen zum
partizipierenden Lebensstil verstand. Lerner bezeichnete die
traditionelle Gesellschaft als "non-participant" [32], die moderne
hingegen als "participant" [33] (Lerner 1958: 50). Zwischen beiden
Extrema läge ein Transformationsprozess, der die Modifikation der
Sozial- und Persönlichkeitsstruktur impliziere. Lerner prägte den
Begriff der Empathie. Darunter verstand er die "Fähigkeit, sich
selber in der Situation eines anderen zu sehen", d.h. in kurzer Zeit
das Persönlichkeitssystem anzupassen und zu restrukturieren (Lerner
1971: 364). Empathie umfasst nach Daniel Lerner zwei zentrale
Mechanismen, die "mobile Persönlichkeiten" bereits verinnerlicht
haben, in der traditionellen Gesellschaft allerdings weitgehend
fehlt: die Projektion und die Introjektion. Das Projizieren
impliziert die Identifizierung mit dem (bedingt) "Neuen". Denn es
werde zuerst das "einverleibt", was bereits als vertraut betrachtet
wird und in die eigene Persönlichkeitsstruktur hineinpasst. Das
Introjizieren meint die Identitätserweiterung der Psyche durch
Einbeziehen exogener Wertvorstellungen, Wertmaßstäbe, Empfindungen
und Einstellungen (Lerner 1971: 364). Kurzum: "Empathy is the
psychic mechanism, that enables a person to put himself in another
person's situation - to identify himself with a role, time or place
different from his own." (Lerner, 1968: 391).
3.4. Vergleichende Analyse der vorgestellten
Modernisierungsansätze unter besonderer Berücksichtigung der
Theorien von Huntington und Lerner
Sozialpsychologische Modernisierungstheorien (vgl. Lerner u.a.)
weisen Parallelen mit ökonomischen Ansätzen auf (vgl. Rostow u.a.),
da ihnen die Annahme zugrunde liegt, dass zwischen dem niedrigen
Entwicklungsstand und der traditionellen Lebensweise in
Entwicklungsländern ein direkter kausaler Zusammenhang bestehe.
Sowohl Rostow als auch Lerner sah in der Überwindung der
Traditionalität die Grundvoraussetzung für die Modernisierung,
welche sich sukzessiv, anhand festgelegter Stufen, einstelle. Im
Lerner'schen Verständnis definiere sich der Wachstumsprozess in
erster Linie nicht über den wirtschaftlichen, sondern über den
sozialen Wandel, d.h. die Veränderung der Sozialstruktur (soziale
Stellung, Rolle, Organisation). Lerner untersuchte anhand der
Mobilität den Modernisierungsgrad des Lebensstils in traditionellen
Gesellschaften. Er kam zu dem Ergebnis, dass der Mobilität in ihrer
unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Ausprägungsform eine
entscheidende Rolle im Modernisierungsprozess zukomme. Jede Phase
der Entwicklung [34] sei verbunden mit der Zunahme des
Mobilitätsverhaltens innerhalb der Gesellschaft. Die Überwindung der
dualistischen Strukturen, "Village versus town, illiteracy versus
enlightenment, resignation versus ambition, piety versus excitement"
(Lerner 1958: 44), hänge jedoch maßgeblich von den emphatischen
Fähigkeiten und der Verinnerlichung eines "rationalistic
positivistic spirit" in der Transformationsgesellschaft ab.
Ungeachtet der Kritik am Lerner'schen Modell [35] griff Huntington
Lerners Thesen auf. Denn beide stimmten darin überein, dass das Maß
der politischen Partizipation an den Entwicklungsstand einer
Gesellschaft gekoppelt sei [36]. Das belegten zudem Sidney Verba und
Norman H. Nie (1972) mit ihrem empirisch belegten "Standardmodell
der politischen Partizipation", welches besagte, dass eine hohe
ökonomische Ressourcenausstattung der Bürger zur Ausbildung von
positiven Einstellungen gegenüber dem politischen System und
schließlich zu partizipatorischem Engagement führt [37].
Samuel Huntington bemerkte diesbezüglich - unter Berücksichtigung
der Lerner'schen Theorie -: "In the years since, it has become
commonly accepted that the principal political difference between
traditional and modern societies is the scope, intensity, and bases
of political participation. In more wealthy, industrialized,
urbanized, complex societes, more people become involved in politics
in more ways than they do in less developed, agricultural, rural,
more primitive economic and social systems" (Huntington/Nelson 1976:
43).
Huntingtons Aussagen verdeutlichen sein Verständnis von
Partizipation, welche im klassischen Sinne die Teilnahme [38] am
politischen Prozess bedeutet. Darunter fallen "those legal
activities by private citizens that are more or less directly aimed
at influencing the selection of governmental personnel and/or the
actions they take" (Verba/Nie/Kim 1978: 46). Im heutigen
entwicklungspolitischen Sprachgebrauch meint Partizipation
allerdings neben der politischen auch die gesellschaftliche
Teilnahme, die in Form von Aktionen auftreten kann, die von Bürgern
unternommen werden, um am Entscheidungs- und Entwicklungsprozess
mitzuwirken, aber auch im Sinne einer Beteiligung an den materiellen
und immateriellen Gütern einer Gesellschaft [39].
Die Einbeziehung dessen, was Partizipation im moderneren
Verständnis impliziert, ermöglicht eine stärkere inhaltliche
Differenzierung zwischen der ökonomisch-politischen
Modernisierungstheorie Samuel Huntingtons und dem
sozial-psychologischen Ansatz Daniel Lerners. Verdeutlichen lässt
sich das anhand einer für Lerner zentralen Größe im
Transformationsprozeß, der Mobilität: "Mobility is the initial
mechanism: people must be ready, willing, and able to move from
where they are and what they are" (Lerner 1968: 392). Die Mobilität
des Menschen tritt nach Lerner in dreifacher Hinsicht auf: Als
"physische Mobilität" im Sinne einer räumlichen Veränderung, als
"soziale Mobilität", zu verstehen als Veränderung der
gesellschaftlichen Stellung sowie als "psychische Mobilität", die
die Anpassungsleistung an die Veränderungen während des
Transformationsprozesses darstelle und in direktem Zusammenhang mit
der Empathie stehe (Lerner 1968: 392).
Der US-amerikanische Soziologe Reinhard Bendix brachte 1982 einen
weiteren Terminus in die entwicklungspolitische Diskussion mit ein:
die geistige Mobilisierung. Bezogen auf die sukzessive globale
Verbreitung des Buchdrucks [40] verstand Bendix diese als einen
Vorgang "einer schnellen Vervielfältigung und Verbreitung von Ideen
und das damit verbundene Wachstum von Autoren und Lesern" (Bendix
1982: 122). Bereits 1968 hatte der deutschstämmige Soziologe anhand
zweier historischer Revolutionen die Wirkung einschneidender
Ereignisse auf die gesellschaftlichen Eliten eines Landes
untersucht. Bendix zufolge habe die Französische Revolution in
politischer sowie die Industrielle Revolution in wirtschaftlicher
Hinsicht in "Non-participant-societies" ein Gefühl der
Rückständigkeit bewirkt. Daraus habe sich in Teilen der Bevölkerung
- insbesondere unter den politischen, soziokulturellen und
wirtschaftlichen Eliten - der Drang nach Imitation und Übertragung
auf die eigene Gesellschaft ergeben. Als Antriebskraft für
Akkulturation und Modernisierung dienen neben nationalistischen vor
allem wertrationale Motive. Geistige Mobilisierung bedeute eine
Emanzipation einzelner gesellschaftlicher Gruppen, die durch exogene
Prozesse stimuliert würden und zu einer endogenen Bewusstseins- und
Interessenswandlung beitrügen (Bendix 1982: 121-125). Diesbezüglich
ist anzumerken, dass eine Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung
nicht allein auf nationalistische oder wertrationale Motive
zurückzuführen sein kann, sondern - in Anlehnung an Max Webers
Typologie des Handelns (1968: 12f.) - auch eine zweckrationales
Handeln einschließt. Dieses drückt sich beispielsweise im Wunsch
nach Veränderungen aus, die eine Anhebung des wirtschaftlichen und
sozialen Wohlstandes zur Folge haben.
Im Gegensatz dazu greift Huntington den Begriff der "Social
mobilization" auf. Mobilisierung meint im sozialwissenschaftlichen
Sinne das Aktivieren einer gesellschaftlichen Gruppe -
beispielsweise mit Hilfe politischer Angebote - durch die sie
beherrschende Elite bzw. politische Partei. Es handelt sich um einen
bilateraler Prozess, in dessen Verlauf die jeweiligen
Gruppenvertreter versuchen, die Interessen ihrer Bezugsgruppe
möglichst vollständig durchzusetzen [41]. Soziale Mobilisierung ist
als Konkretisierung des oben genannten zu verstehen, als
Hervorhebung einer gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung [42]. Diese
Form der Aktivierung der Bevölkerung während des
Transformationsprozesses lehnt Samuel Huntington ab, da er sie als
möglichen Auslöser für Instabilität und politischen Verfall sieht: "Modernization
and social mobilization, in particular, thus tend to produce
political decay unless steps are taken to moderate or to restrict
its impact on political consciousness and political involvement.
Most societies (...) suffer a loss of political community and decay
of political institutions during the most intense phases of
modernization" (Huntington 1968: 86). Der US-amerikanische
Politologe argumentiert, dass Instabilität dadurch entsteht, dass
beispielsweise Forderungen und Wünsche derer unbefriedigt bleiben,
die über ein hohes Maß an Bildung verfügen. Seine o.g. These, dass
Menschen, die sich im Zustand absoluter Armut befinden, kein
erhöhtes Risiko für die politische Stabilität seien, erweiterte
Huntington dahingehend, dass in seinem Verständnis fehlende
Partizipation an Bildungsmaßnahmen ebenfalls kein Anlass für offen
dargebotenen Unmut und Protest sei. Im Gegenteil: "In general, the
higher the level of education of the unemployed, alienated, or
otherwise dissatisfied person, the more extreme the destabilizing
behavior which results. (...) Political participation by illiterates,
however, may well, as in India, be less dangerous to democratic
political institutions than participation by literates. The latter
typically have higher aspirations and make more demands on
government. Political participation by illiterates, moreover, is
likely to remain limited, while participation by literates is more
likely to snowball with potentially disastrous effects on political
stability" (Huntington 1968: 48p.). Samuel Huntington hielt es daher
für sinnvoll, auf gesamtgesellschaftliche politische und soziale
Partizipation während des Transformationsprozesses zu verzichten. In
seinen Augen werde dies weder von den betroffenen
Bevölkerungsgruppen als eines der Hauptziele verfolgt, noch diene es
der inneren Ordnung und Stabilität des betreffenden Landes.
Politische Partizipation ergebe sich vielmehr aus der Verwirklichung
wirtschaftlichen Wachstums und sozioökonomischer Partizipation [43].
Der Grundgedanke, Partizipation zu beschränken und in periphere,
ungefährliche Bahnen umzulenken, besitzt Symbolkraft in zweierlei
Hinsicht: Einerseits verdeutlicht sie Huntingtons Verständnis vom
Sinn demokratischer Strukturen in Transformationsgesellschaften;
andererseits zeigte der große Erfolg seiner Veröffentlichung die
Akzeptanz seiner Thesen in Teilen westlicher Gesellschaften.
Demokratie als Auslöser von politischer Unordnung, Einschränkung und
Verfall des Staates anzusehen, erschien in den 1960er Jahren als
weitaus weniger abwegig als heute. "Political order in changing
societies" war als Modifizierung und Extension des
modernisierungstheoretischen Entwicklungsansatzes angedacht worden.
Der den Modernisierungstheorien zu Grunde liegende Gedanke wurde zu
jener Zeit weniger in Frage gestellt als vielmehr die Form der
Umsetzung. Die Kritik richtete sich gegen jene
Modernisierungsstrategien, die sich einzig auf wirtschaftliche
Aspekte konzentrierten und dabei die Rolle des Staates nur teilweise
einbezogen. Dass Samuel Huntingtons Konzept auf einen Staat aufbaut,
der sich gegebenenfalls undemokratischer Handlungsweisen bedient,
wurde auf Seiten westlicher Regierungsvertreter nicht nur
hingenommen, sondern in Abhängigkeit der sicherheits- und
machtpolitischen Bedeutung des betreffenden Staates für den
Ost-West-Konflikt als wünschenswert aufgefasst. Autoritären
Staatsregierungen wurde die Fähigkeit zur Durchsetzung politischer
Ordnung und Stabilität einerseits sowie zu politischer Kooperation
mit westlichen Staaten andererseits eingeräumt. Exemplarisch dafür
sind die umfangreiche politische und sozioökonomische Unterstützung
der Dominikanischen Republik durch die USA während der Diktatur von
Rafael Leonidas Trujillo Molina (1930-1961) [44].
(c) Dipl.-Geogr. Johannes Winter,
Weltpolitik.net
[16] Erstmals veröffentlicht im Jahre 1960 unter dem Titel "The
stages of economic growth - a non-communist manifesto".
[17] Rostow stütze sich in seinen Berechnungen vorrangig auf die
wirtschaftliche Entwicklung von vier westeuropäischen (Frankreich,
Deutschland, Italien, Großbritannien), den nordamerikanischer
Ländern (USA, Canada) sowie Japan und Rußland.
[18] "A society predominantly agricultural - with, in fact, usually
75 % or more of its working force in agriculture - must shift to a
predominance for industry, communications, trade and services." (Rostow
1960: 18p.)
[19] " The conception of the traditional society is, however, in no
sense static; and it would not exclude increases in output. (...)
But the central fact about the traditional society was that a
ceiling existed on the level of attainable output per head. This
ceiling resulted from the fact that the potentialities which flow
from modern science and technology were either not available or not
regularly and systematically applied." (Rostow 1960: 4).
[20] Vgl. Sills 1968, bezugnehmend auf: "The more general case in
modern history, however, saw the stage of preconditions arise not
endogenously but from some external intrusion by more advanced
societies."(Rostow 1960: 6).
[21] "The take-off ist the interval when the old blocks and
resistances to steady growth are finally overcome. The forces making
for economic progress, which yielded limited bursts and enclave of
modern activity, expand and come to dominate the society. Growth
becomes its normal condition." (Rostow 1960: 7).
[22] Der Begriff "Big push" wurde von Paul N. Rosenstein-Rodan
geprägt und drückt aus, dass ein Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens nur
mittels eines kräftigen Investitionsschubes erreicht werden könne,
der durch exogene Kapitalzufuhr (private Direktinvestitionen;
Entwicklungshilfe) forciert werden könne (Rosenstein-Rodan 1961).
[23] Vgl. Rostow 1960: 8.
[24] Vgl. Rostow 1960: 39.
[25] Nissen (1993: 722) spricht von einem "horizont of rising
expectations", welcher durch die Veränderung der
technisch-ökonomischen Produktionsstruktur entsteht und in eine
rational-ökonomische Verhaltensweise übergeht. Daraus ergibt sich
schließlich eine Veränderung der gesamten sozioökonomischen
Struktur.
[26] Vgl. Rostow 1960: 73pp.
[27] Lester B. Pearson (1970: 17) stellte wenig später fest, "that
we never should forget, in short, that the developing peoples do not
start from scratch in a new world but have to change and grow and
develop within a context unfavorable to them, because in the past
their position has been so largely determined by the interests of
other nations."
[28] Pearson (1970: 47) wies darauf hin, dass das von den Vereinten
Nationen angestrebte wirtschaftliche Mindestwachstum in
Entwicklungsländern von fünf Prozent des BIP pro Jahr in den 1960er
Jahre erreicht wurde, jedoch einerseits große Disparitäten zwischen
den einzelnen Ländern hinsichtlich der Wachstumsrate bestanden und
andererseits aufgrund des hohen Bevölkerungswachstum der Anstieg des
Pro-Kopf-Einkommens bei lediglich 2,5 Prozent lag.
[29] Ein Jahr nach der Erscheinen des Pearson-Berichts
veröffentlichte Pearson eine Monographie unter dem Titel "The Crisis
of Development" (1970).
[30] Des weiteren stellten Alesiana/Dollar (1998) fest: "Generally,
former colonies characterised by inefficient government and economic
mismanagement receive more assistance from one-time colonial powers
than other developing countries which are better governed and have
honest, accountable policy-makers and comparable levels of poverty,
but no colonial past" (In: Alesiana A. & Dollar, D. (1998): Who
gives foreign aid to whom and why? National Bureau of Economic
Research" [Working Paper 6612], Cambridge, 1998; zitiert bei
http://www.foundation.novartis.com/development_assistance.htm).
[31] "(...) people who are really poor are too poor for politics and
too poor for protest. They are indifferent, apathetic, and lack
exposure to the media and other stimuli which would arouse their
aspirations in such manner as to galvanize them into political
activity." (Huntington 1968: 52).
[32] "Traditional society is non-participant - it deploys people by
kinship into communities isolated from each other and from a center.
(...) Lacking the bonds of independence people's horizons are
limited by locale and their decisions involve only other known
people in known situations." (Lerner 1958: 50).
[33] "Modern society is participant in that it functions by
consensus" (Lerner 1958: 50). "This does not mean that all people
must participate continuously in all societal activities (...). It
does mean that enough people must participate continuously in each
major institution to make these institutions viable, adaptable, and
durable." (Lerner 1968: 393).
[34] Im Verständnis Lerners vollzieht sich der
Transformationsprozess anhand folgender Stufen: 1) Urbanisierung:
"Die Wanderung der Bevölkerung aus den Dörfern des Hinterlandes in
die urbanen Zentren stimuliert die Bedürfnisse und schafft die für
den "take-off" zu einer umfassenden Teilnahme notwendigen
Voraussetzungen." 2) Elementarbildung: "Sie ist ein wirksames
Werkzeug für die Förderung des Konsums von städtischen Gütern über
die Grenzen der Stadt hinaus. (...)Lesen und Schreiben bilden in
diesem Sinne die grundlegenden Fähigkeiten, die für die Wirksamkeit
eines Kommunikationssystems nötig sind." 3) Benutzung von
Massenmedien: "Wenn die Menschen einmal fähig sind, mit den neuen
Erfahrungen, denen sie sich durch ihre Mobilität (ihre Wanderung in
die Stadt) aussetzen -, und mit den neuen Erfahrungen, die ihnen die
Massenmedien (aufgrund ihrer Lese- und Schreibfähigkeit) vermitteln,
fertig zu werden, suchen sie nach Möglichkeiten, ihre neue
Fähigkeiten anzuwenden. (...) Die Zunahme der Benutzung von
Massenmedien bedeutet (...) nichts anderes, als daß sich ganz
generell die Teilnahmeraten in allen Sektoren des sozialen Systems
erhöhen." (Lerner 1971: 371-374).
[35] Diese bezog sich v.a. auf Lerners Grundannahmen, dass die
traditionelle Gesellschaft keine emphatischen Fähigkeiten
ausgebildet habe, sondern "der Horizont der Menschen durch die
lokalen Angelegenheiten begrenzt" sei und daher "kein Bedürfnis für
eine gemeinsame, überpersönliche Doktrin, (...), etwa eine nationale
Ideologie bestehe" (Lerner 1971: 365).
[36] Dazu Huntington (1976: 43): "The higher the level of
socio-economic development in a society, the higher the level of
political participation". Zu Lerner vgl. Fußnoten 35 und 36.
[37] Zitiert nach Kaase (1995: 524).
[38] Vgl. participatio (lat.): Beteiligung; Teilhabe; Teilnahme.
[39] Eine Studie des UN-General-Sekretariats ("Report of the
secretary-general") von 1976 zufolge definiert sich Partizipation
als gesamtgesellschaftlicher "Handlungsprozeß, der die Bevölkerung
einbegreift in a) die politische Entscheidungsfindung (...), b) die
Beteiligung an den Entwicklungsanstrengungen, c) die gerechte
Verteilung der erwirtschafteten Güter" (zitiert nach Nohlen 1995:
556).
[40] durch Johannes Gutenberg, 1456.
[41] Vgl. Prätorius 1996: 342. (In: Nohlen, D. (1995): Wörterbuch
Staat und Politik. Piper.)
[42] Der Soziologe Karl W. Deutsch verstand den Begriff wie folgt:
"Soziale Mobilisierung ist ein Name, der einem umfassenden Wandlungsprozeß gegeben wurde, den wesentliche Teile der Bevölkerung
von Ländern durchmachen, die auf dem Wege von traditionellen zu
modernen Lebensformen sind. Dieser Begriff umklammert eine ganze
Anzahl engerer Teilprozesse, wie zum Beispiel Wohnsitzwechsel,
Berufswechsel, Änderung der sozialen Umgebung und der Sphäre des
Nachbarlichen, von Institutionen, Rollen und Handlungsweisen. Er
umfaßt darüber hinaus Wandlungen der Erfahrungen und Erwartungen und
damit der persönlichen Erinnerungen, Gewohnheiten und Bedürfnisse,
einschließlich dem verlangen nach neuen Vorbildern der
Gruppenbildung und neuen Bildern des Selbstverständnisses der
einzelnen. Alle diese Wandlungen tendieren bereits für sich allein -
und erst recht in ihrer geballten Wirkung dahin, das politische
Verhalten zu beeinflussen oder gar tiefgreifend umzuformen" (Deutsch
1971: 329).
[43] "Groups and individuals within a developing society are also
unlikely to value political participation as a goal in itself, and
are more likely to resort first to other possible ways of improving
their social status and material well-being. The achievement of
these goals, however, may well increase political participation"
(Huntington/Nelson 1976: 41).
[44] Vgl. Atkins, G. P. & Wilson, L. C. (1998): The Dominican
Republic and the United States : From imperialism to
transnationalism. University of Georgia.
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