Gastbeitrag: Dipl.-Geogr.
Johannes Winter |
|
|
4. Entwicklung bedeutet Unabhängigkeit - Die Neuausrichtung der
Entwicklungspolitik in den 1970er Jahren
4.1. Gründe für das Aufkommen der entwicklungspolitischen Debatte
zu Beginn der 1970er Jahre
Die in den 1960er Jahren entfachte Diskussion über die Inhalte
der Entwicklungspolitik erhielt zu Beginn der zweiten
Entwicklungsdekade (1971-1980) neuen Antrieb. Dafür gab es
unterschiedliche Gründe: Die Zunahme der weltweiten Armut sowie die
ansteigende Zahl verfehlter oder nur bedingt erfolgreicher
Entwicklungsprogramme hatten dafür gesorgt, dass sich die
internationale Entwicklungszusammenarbeit nun stärker an ihren
Erfolgen messen lassen musste. Die Anfangseuphorie der ersten
Entwicklungsdekade hatte nicht nur dazu beigetragen, dass eine
Vielzahl von Entwicklungstheorien entstanden waren, sondern zudem,
dass über mögliche Misserfolge weder in der Wissenschaft noch in der
Politik intensiver nachgedacht wurde. Im Verlauf der 1970er Jahren
gerieten die Modernisierungstheorien zunehmend in die Kritik. Sowohl
auf Seiten der Industrieländer als auch auf Seiten der
Entwicklungsländer entfachte sich eine intensive Debatte über die
grundsätzliche Neuausrichtung der Entwicklungspolitik. In deren
Verlauf entstanden neue Ansätze und Modelle, auf die im Folgenden
eingegangen wird (Þ 4.2.; 4.3.).
Darüber hinaus trug die machtpolitische und wirtschaftliche Lage
dazu bei, dass die Kooperation zwischen Entwicklungsländern an
Bedeutung hinzu gewann. Bereits 1961 war mit dem Zusammenschluss der
"Blockfreien Staaten" ein erster Versuch unternommen worden, auf
politischer Ebene eine einheitliche Position gegenüber den
Industrieländern zu beziehen. Grundgedanke der "Blockfreienbewegung"
war es, sich durch eine gemeinsame Ausrichtung der Außenpolitik
bewusst von den beiden machtpolitischen Blöcken in der Welt zu
distanzieren. Die Gründung der "UN-Conference on Trade and
Development" (UNCTAD) im Jahre 1964 und die damit in Verbindung
stehende Entstehung der "Gruppe der 77" drei Jahre darauf, waren
weitere Schritte in diese Richtung. Aufgrund ihrer numerischen
Überlegenheit gelang es den nun einheitlicher organisierten
Entwicklungsländern zumindest phasenweise, über die Ebene der
Vereinten Nationen stärkeren Einfluss auf die Gestaltung der
Entwicklungspolitik in den Industrieländer zu nehmen.
Die erste Ölkrise (1973/1974) führte schließlich dazu, dass nicht
nur eine stärkere Auseinandersetzung mit der weltweiten
Entwicklungsproblematik erfolgte, sondern dass offenkundiger wurde,
dass beide Hemisphären nicht unabhängig voneinander existieren
können. Diese Erkenntnis bezog sich in erster Linie darauf, dass es
mit den OAPEC-Staaten [45] einer Gruppe von Schwellen- und
Entwicklungsländern durch die Bildung eines Rohstoffkartells
gelungen war, die Kontrolle über einen zentralen Rohstoff zu
erlangen und damit die Preispolitik entscheidend zu beeinflussen.
4.2. Die Neue Weltwirtschaftsordnung im Kontext der ersten
Ölkrise und der allgemeinen Entwicklungsproblematik
Am 6.Oktober 1973 lösten ägyptische und syrische Truppen mit
ihrem Angriff auf Israel den 4.Nahostkrieg (Jom-Kippur-Krieg) aus.
Ziel der arabischen Staaten war es, Israel zu einem Rückzug aus den
im Sechstagekrieg (1967) besetzten Gebieten sowie zu einer Wahrung
der Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung zu zwingen. Als
Druckmittel diente den arabischen erdölexportierenden Länder der
fossile Brennstoff Erdöl. Der sogenannte "Ölschock" entstand
dadurch, dass die OAPEC durch eine Drosselung der Erdölförderung
eine Angebotsverknappung von Erdöl auf den Weltmärkten bewirken
konnten, was zu einem drastischen Preisanstieg führte. Hinzu kam ein
Handelsembargo gegenüber den USA und den Niederlanden, um diese von
ihrem pro-israelischen Kurs abzubringen.
Der "Ölschock" bewirkte in den westlichen Industrieländern
einerseits eine vorübergehende Korrektur des Energieverhaltens und
ein stärkeres Einbeziehen nicht-fossiler Energiequellen wie
beispielsweise der Kernenergie; andererseits nahm aufgrund der
negativen Auswirkungen der Ölkrise auf die Wirtschaftszweige die
Bereitschaft zu, über die Modifikation des weltpolitischen und
weltwirtschaftlichen Systems zu diskutieren. Die auf der dritten
UNCTAD-Konferenz (1972) in Santiago de Chile erstmals formulierte
Forderung der Entwicklungsländer nach einer "Neuen
Weltwirtschaftsordnung" fand im Zeichen der aufkommenden
Weltwirtschaftskrise stärkere Beachtung. Auch wenn die Absicht
vieler Industrieländer, die bisherige "Internationale
Arbeitsteilung" [46] grundlegend zu modifizieren, nicht vorhanden
war, stieg zumindest ihre Verhandlungsbereitschaft. Die "Neue
Weltwirtschaftsordnung" sollte nicht nur den internationalen Handel,
die Rohstoffpolitik, das internationale Währungssystem und die
Entschuldung erfassen, sondern auch Fragen zur Ernährung und
Landwirtschaft sowie zu Wissenschaft und Technologie einbeziehen. Zu
den zentralen Forderungen der Entwicklungsländer gehörten die
Regulierung der Rohstoff- und Warenmärkte mit Hilfe internationaler
Vorratslager, der erleichterte Zugang der Entwicklungsländer zu den
westlichen Kapital- und Warenmärkten, die Schuldenentlastung sowie
die stärkere Demokratisierung der Bretton-Woods-Institutionen [47].
Die Debatte über die Modifikation der bisherigen
Wirtschaftsbeziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländer
führte zur Verabschiedung zweier Dokumente grundlegender Bedeutung
durch die UN-Vollversammlung: Erstens, die "UN-Erklärung über die
Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung" vom
2.5.1974; Zweitens, die "UN-Charta über die wirtschaftlichen Rechte
und Pflichten von Staaten" vom 12.12.1974. Auszüge aus beiden
Dokumente sollen aufgrund ihrer großen Bedeutung für die allgemeine
Entwicklungsdebatte der 1970er Jahren in ihrem originalen Wortlaut
im Folgenden aufgeführt werden:
Abb. 1: Erklärung der Rohstoff- und Entwicklungskonferenz der
Vereinten Nationen vom 9.4. - 2.5.1974 über die Errichtung einer
neuen internationalen Wirtschaftsordnung (Absatz IV):
Absatz IV: Die neue internationale
Wirtschaftsordnung muß auf der uneingeschränkten Achtung von
den folgenden Grundsätzen beruhen: a). Gleichberechtigung
aller souveräner Staaten, Selbstbestimmungsrecht aller Völker,
Verbot des Gebietserwerbs durch Gewalt, territorialer
Unantastbarkeit und Nichteinmischung in die inneren
Angelegenheiten anderer Staaten.
b). Breiteste Zusammenarbeit aller Mitgliedstaaten der
internationalen Gemeinschaft, beruhend auf Billigkeit und
Gerechtigkeit, wodurch die in der Welt herrschenden
Ungleichheiten beseitigt und der Wohlstand für alle
sichergestellt werden könne.
c). Volle und wirksame Teilnahme aller Länder auf der
Grundlage der Gleichberechtigung an der Lösung der
weltwirtschaftlichen Probleme im gemeinsamen Interesse aller
Länder, eingedenk der Notwendigkeit, die beschleunigte
Entwicklung aller Entwicklungsländer sicherzustellen, wobei
höchste Aufmerksamkeit besonderer Maßnahmen zugunsten der am
wenigsten entwickelten, vom Zugang zum Meer abgeschnittenen
und auf Inseln gelegenen Entwicklungsländer sowie derjenigen
Entwicklungsländer zuzuwenden ist, die am schwersten von
wirtschaftlichen Krisen und natürlichen Nachteilen betroffen
sind; ohne daß jedoch die Interessen anderer
Entwicklungsländer aus den Augen verloren werden dürfen.
d). Das Recht jedes Landes, sich ohne Diskriminierung
dasjenige wirtschaftliche und soziale System zu geben, das
seines Erachtens für seine eigene Entwicklung am besten
geeignet ist.
e). Volle Souveränität jedes Staates über seine
Bodenschätze und seine gesamte wirtschaftliche Tätigkeit. Zum
Schutz dieser Bodenschätze hat jeder Staat das Recht,
wirkungsvolle Kontrolle über sie und ihre Ausbeutung auszuüben
und zu diesem Zweck diejenigen Mittel anzuwenden, die seiner
eigenen Situation angemessen sind, einschließlich des Rechts
der Verstaatlichung oder der Übertragung des Besitzrechts an
seine eigenen Staatsbürger, wobei dieses Recht ein Ausdruck
der uneingeschränkten und beständigen Souveränität des Staates
ist. Kein Staat darf wirtschaftlichem, politischen oder
irgendeinem anders gearteten Zwang ausgesetzt werden, um ihn
an der freien und uneingeschränkten Ausübung dieses
unveräußerlichen Rechts zu hindern.
f). Das Recht aller Staaten, Territorien und Völker, die
fremder Besetzung, fremder und kolonialer Beherrschung oder
der Apartheid unterworfen sind, auf Rückgabe und volle
Entschädigung für Ausbeutung, Minderung oder Beschädigung der
Bodenschätze und aller anderer Hilfsquellen.
g). Regulierung und Beaufsichtigung der Tätigkeit von
multinationalen Gesellschaften durch Einleitung von Maßnahmen
im Interesse der Volkswirtschaft derjenigen Länder, in denen
derartige Gesellschaften operieren, auf der Grundlage der
uneingeschränkten Souveränität dieser Länder.
h). Das Recht der Entwicklungsländer und der Völker, deren
Gebiete kolonialer und rassistischer Herrschaft und fremder
Besetzung unterworfen sind, ihre Befreiung zu betreiben und
die wirksame Kontrolle über ihre Bodenschätze und ihre
wirtschaftliche Tätigkeit wiederzuerlangen.
i). Die Gewährung von Beistand an Entwicklungsländer,
Völker und Territorien unter Kolonial- und Fremdherrschaft,
fremder Besetzung, rassischer Diskriminierung und Apartheid;
ferner an Länder, die wirtschaftlichen, politischen oder
anders gearteten Maßnahmen ausgesetzt sind, mit denen der
Verzicht auf die Ausübung ihrer souveränen Rechte erzwungen
und ihnen Vorteile jeglicher Art abgewonnen werden sollen;
ebenso an Länder, die eine wirksame Kontrolle über ihre
Bodenschätze und ihre wirtschaftliche Tätigkeit, die fremder
Kontrolle unterworfen waren oder noch sind, hergestellt haben
oder danach streben.
j). Gerechte Relationen zwischen den Preisen von
Rohstoffen, Grundstoffen, Fertigwaren und Halbfertigwaren, die
von Entwicklungsländern exportiert werden, und den Preisen von
Rohstoffen, Grundstoffen, Fertigwaren, Investitionsgütern und
Industrieausrüstung, die von ihnen importiert werden, mit dem
Ziel, eine beständige Verbesserung ihrer unbefriedigenden
Handelsbedingungen sowie die Expansion der Weltwirtschaft
herbeizuführen.
k). Ausweitung der aktiven Unterstützung der
Entwicklungsländer durch die gesamte internationale
Gemeinschaft, frei von allen politischen oder militärischen
Bedingungen.
l). Sicherstellung, daß eines der Hauptzeile der Reform des
Weltwährungssystems in der Förderung der Entwicklung der
Entwicklungsländer und eines angemessenen Zustroms von
Realkapital an sie besteht.
m). Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von
Naturprodukten, die der Konkurrenz durch synthetische
Ersatzstoffe ausgesetzt sind.
n). Erteilung von Präferenzen an Entwicklungsländer, wo
immer dies praktisch möglich ist, und nichtreziproke
Behandlung auf allen Gebieten der internationalen
wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
o). Sicherung günstiger Bedingungen beim Kapitaltransfer an
Entwicklungsländer.
p). Zugang zu den Errungenschaften der modernen
Wissenschaft und Technik für die Entwicklungsländer,
Übermittlung technischer Kenntnisse an sie und Schaffung einer
einheitlichen Technologie zum nutzen der Entwicklungsländer in
einer Form, die den Wirtschaftsformen dieser Länder
entspricht.
q). Die Notwendigkeit, daß alle Staaten die Vergeudung von
Gütern der Natur einschließlich der Nahrungsmittel beenden.
r). Das Erfordernis, daß die Entwicklungsländer alle ihre
Hilfsquellen auf die Aufgabe der Entwicklung konzentrieren.
s). Die Stärkung der wirtschaftlichen, kommerziellen,
finanziellen und technischen Zusammenarbeit durch individuelle
und kollektive Aktionen unter den Entwicklungsländern,
hauptsächlich auf der Grundlage von Präferenzen.
t). Erleichterung der Rolle von Erzeugerkartellen im Rahmen
der internationalen Zusammenarbeit zur Förderung des
beständigen Wachstums der Weltwirtschaft und zur Entwicklung
der Entwicklungsländer.
Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politik, H.
6, 1974, S.630-642. |
Abb. 2: Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der
Staaten vom 12.12.1974:
Kapitel 1: Grundlagen der internationalen Wirtschaftsbeziehungen
Kapitel 2: Wirtschaftliche Rechte und Pflichten der Staaten
Kapitel 1: Die wirtschaftlichen sowie
politischen und sonstigen Beziehungen zwischen Staaten müssen
unter anderem auf folgenden Grundsätzen beruhen: a).
Souveränität, territoriale Unversehrtheit und politische
Unabhängigkeit der Staaten;
b). Souveräne Gleichheit aller Staaten;
c). Verzicht auf Angriff;
d). Verzicht auf Intervention;
e). Gegenseitiger und gerechter Nutzen;
f). Friedliche Koexistenz;
g). Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker;
h). Friedliche Beilegung von Streitigkeiten;
i). Beseitigung von Ungerechtigkeiten, die gewaltsam
herbeigeführt worden sind und die ein Volk der für seine
normale Entwicklung notwendigen natürlichen Mittel berauben;
j). Redliche Erfüllung internationaler Verpflichtungen;
k). Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten;
l). Verzicht auf jedes Streben nach Hegemonie und
Einflußsphären;
m). Förderung der internationalen sozialen Gerechtigkeit;
n). Internationale Zusammenarbeit im Bereich der
Entwicklung;
o). Freier Zugang zum Meer für Binnenländer im Rahmen der
obigen Grundsätze.
Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit (1975): Entwicklungspolitik. Materialien Nr.
49, S.11-21, Bonn. |
Kapitel 2: Wirtschaftliche Rechte und
Pflichten der Staaten (...)
Artikel 5
Alle Staaten haben das Recht, sich in Organisationen von
Grundstofferzeugern zusammenzuschließen, um ihre nationalen
Volkswirtschaften zu entwickeln und dadurch eine stabile
Finanzierung ihrer Entwicklung zu erreichen, sowie im Verfolg
ihrer Ziele zur Förderung eines beständigen Wachstums der
Weltwirtschaft beizutragen und dabei insbesondere die
Entwicklung der Entwicklungsländer zu beschleunigen.
Dementsprechend haben alle Staaten die Pflicht, dieses Recht
zu achten, indem sie sich aller wirtschaftlichen und
politischen Maßnahmen enthalten, die es beschränken würden.
Artikel 6
Es ist die Pflicht der Staaten, zur Entwicklung des
internationalen Warenhandels beizutragen, insbesondere durch
Regelungen und gegebenenfalls durch den Abschluß langfristiger
mehrseitiger Grundstoffübereinkommen, wobei die Interessen der
Erzeuger und Verbraucher zu berücksichtigen sind. Alle Staaten
sind gemeinsam dafür verantwortlich, den regelmäßigen Fluß und
Zugang aller Handelsgüter, die zu stabilen, lohnenden und
gerechten Preisen gehandelt werden, zu fördern und dadurch zur
gerechten Entwicklung der Weltwirtschaft beizutragen, wobei
insbesondere die Interessen der Entwicklungsländer zu
berücksichtigen sind.
(...)
Artikel 14
Jeder Staat hat die Pflicht, an der Förderung einer
stetigen und zunehmenden Ausweitung und Liberalisierung des
Welthandels und einer Verbesserung des Wohlstands und des
Lebensstandards aller Völker, insbesondere in den
Entwicklungsländern, mitzuwirken. Daher sollen alle Staaten
zusammenarbeiten, um unter anderem den fortschreitenden Abbau
der Handelshemmnisse und die Verbesserung des internationalen
Rahmens für die Abwicklung des Welthandels herbeizuführen;
dazu müssen koordinierte Anstrengungen zu einer gerechten
Lösung der Handelsprobleme aller Länder unternommen werden,
wobei die spezifischen Handelsprobleme der Entwicklungsländer
zu berücksichtigen sind. In diesem Zusammenhang werden die
Staaten Maßnahmen zur Sicherung zusätzlicher Vorteile für den
Außenhandel der Entwicklungsländer treffen, um eine erhebliche
Steigerung ihrer Deviseneinnahmen, die Auffächerung ihrer
Ausfuhren, die Beschleunigung der Wachstumsrate ihres Handels
zu erreichen, wobei ihre Entwicklungsbedürfnisse, die
Verbesserung der Möglichkeit ihrer Teilnahme an der Ausweitung
des Welthandels und eine für sie günstigere Lage bei der
Beteiligung an den sich aus dieser Ausweitung ergebenden
Vorteilen zu berücksichtigen sind, die dadurch erreicht
werden, daß die Zugangsbedingungen für Erzeugnisse von
Interesse für die Entwicklungsländer weitestgehend verbessert
und gegebenenfalls Maßnahmen zur Erreichung stabiler,
gerechter und lohnender Preise für Grundstoffe getroffen
werden.
(...)
Artikel 18
Die entwickelten Länder sollen das System allgemeiner,
nicht auf Gegenseitigkeit beruhender und nicht
diskriminierender Zollpräferenzen für die Entwicklungsländer
im Einklang mit den einschlägigen, im Rahmen der zuständigen
internationalen Organisationen vereinbarten Schlußfolgerungen
und gefaßten Beschlüsse erweitern, verbessern und ausdehnen.
Die entwickelten Länder sollen auch die Annahme anderer
Vorzugsmaßnahmen in Bereichen, in denen dies möglich und
angemessen ist, und auf die Weise, die eine besondere und
günstigere Behandlung gewährleistet, ernsthaft erwägen, um den
Handels- und Entwicklungsbedürfnissen der Entwicklungsländer
zu entsprechen. Bei der Wahrnehmung internationaler
Wirtschaftsbeziehungen sollen die entwickelten Länder sich
bemühen, Maßnahmen zu vermeiden, die eine negative Auswirkung
auf die Entwicklung der Volkswirtschaften der
Entwicklungsländer haben, wie sie durch allgemeine
Zollpräferenzen und andere vereinbarte Vorzugsmaßnahmen zu
ihren Gunsten gefördert wird.
(...)
Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit (1975): Entwicklungspolitik. Materialien Nr.
49, S.11-21, Bonn. |
Beide Dokumente enthalten mehrere Themenpunkte, die zu Beginn der
1970er Jahre sehr umstritten waren. Dazu zählten beispielsweise
Fragen zur Bildung von Rohstoffkartellen, zur Erhebung von
Handelszöllen sowie zur allgemeinen Preispolitik von Rohstoffen und
Fertigprodukten. Trotz dessen finden sich diese strittigen Punkte
sowohl in der Deklaration vom 2.5.1974 als auch in der Charta vom
12.12.1974 wieder; und zwar in einer Formulierungsform, die auf die
weitgehende Durchsetzung der Interessen der Entwicklungsländer und
eine hohe Kompromissbereitschaft schließen lässt [48].
Diesbezüglich lohnt es sich, den Artikel 5 der "Charta der
wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten" herauszugreifen.
Dort ist zu lesen, dass "alle Staaten das Recht [haben], sich in
Organisationen von Grundstofferzeugern zusammenzuschließen, um ihre
nationalen Volkswirtschaften zu entwickeln und dadurch eine stabile
Finanzierung ihrer Entwicklung zu erreichen, (...)." Dieses Recht
kann und darf nicht unterbunden werden. Allerdings lieferte die
Verankerung des Artikel 5 in der Charta den Mitgliedern eines
Rohstoffkartells eine zusätzliche Rechtfertigung, ihre
Rohstoffpolitik nicht nur zugunsten ihrer nationalen
Volkswirtschaften zu gestalten, sondern zudem als Mittel zur
Durchsetzung ihrer globalen Interessen zu nutzen. Im Artikel 5 ist
lediglich zu lesen, dass das Recht auf Organisation von
Grundstofferzeugern zu wahren, nicht ein möglicher Missbrauch zu
verhindern ist. Die Ölkrise hat aus Sicht zahlreicher
Industrieländer offenbart, dass ein solches Erzeugerkartell die
Gefahr in sich birgt, zu politischen Zwecken missbraucht zu werden
und nicht zwangsläufig zur "Förderung des beständigen Wachstums der
Weltwirtschaft und zur Entwicklung [aller] Entwicklungsländer"
beiträgt. Daher erscheint die Verabschiedung solch umstrittener
Artikel [49] wie dem fünften durch die UN-Generalversammlung als
überraschendes Einlenken der Industrieländer.
Dieser Eindruck verstärkt sich unter Berücksichtigung weiterer
Punkte, beispielsweise des Absatzes j) der "Erklärung zur Errichtung
einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung". Dort heißt es: [Die
neue internationale Wirtschaftsordnung muss auf der
uneingeschränkten Achtung von den folgenden Grundsätzen beruhen:]
"Gerechte Relationen zwischen den Preisen von Rohstoffen,
Grundstoffen, Fertigwaren und Halbfertigwaren, die von
Entwicklungsländern exportiert werden, und den Preisen von
Rohstoffen, Grundstoffen, Fertigwaren, Investitionsgütern und
Industrieausrüstung, die von ihnen importiert werden, mit dem Ziel,
eine beständige Verbesserung ihrer unbefriedigenden
Handelsbedingungen sowie die Expansion der Weltwirtschaft
herbeizuführen." Ausdrücklich wird auf die unbefriedigenden
Handelsbedingungen der Entwicklungsländer hingewiesen. Diese zu
ändern, hätte jedoch bedeutet, die Handelsvorteile der ehemaligen
Kolonialmächte und Industrieländer entscheidend zu beschneiden.
4.3. Positionen und Umsetzungsversuche in den Industrieländern
bezüglich der Neuen Weltwirtschaftsordnung
Das am 28.2.1975 geschlossene "Abkommen von Lomé" [50] (Lomé I)
galt anfangs als Beispiel mit Symbolcharakter für die Umsetzung der
"Neuen Weltwirtschaftsordnung". Die drei implizierten Säulen Handel,
Entwicklungszusammenarbeit und politische Kooperation erfassten
mehrere Elemente der "Erklärung zur Errichtung einer neue
internationale Wirtschaftsordnung". Als beispielhaft bezeichnete die
Europäische Gemeinschaft das nicht-reziproke Handelsabkommen
zwischen den damalig neun EG-Mitgliedsstaaten und 46 afrikanischen,
karibischen und pazifischen Staaten. Den sogenannten AKP-Staaten
wurde durch die EG vertraglich u.a. zugesichert, 99,5 Prozent ihrer
angebotenen Waren zollfrei in die EG einzuführen sowie in den Genuss
der Stabilisierungsprogramme für landwirtschaftliche (STABEX) und
mineralische Rohstoffe (SYSMIN) zu gelangen (Europarl 1999:
http://www.europarl.eu.int/factsheets/6_5_1_de.htm). STABEX und
SYSMIN erfassten eine der zentralen Forderungen der UNCTAD-Konferenz
von 1972, indem sie mittels EG-Geldern dem Rohstoffpreisverfall
durch Kompensationskäufe entgegenzusteuern versuchten. Das "Abkommen
von Lomé" von 1975 und die drei darauf folgenden Vereinbarungen (Lomé
II-IV) sahen allerdings Ausnahmeregelungen bezüglich der
Einfuhrprodukte vor. Ausgenommen waren vor allem weiterverarbeitete
Produkte, wodurch eine grundlegende Neuordnung der "Internationalen
Arbeitsteilung" von vorne herein verhindert wurde. Den AKP-Staaten
wurde zwar ein erleichterter Zugang zu den europäischen Warenmärkten
- wie es u.a. der Artikel 6 der Charta vorsieht - gewährt,
gleichzeitig aber der Export von Fertig- und Halbfertigwaren
aufgrund ihrer Konkurrenzfähigkeit mit europäischen Produkten
erschwert.
Das scheinbare Einlenken der Industrieländer, dass auch durch
ihre hohe Kompromissbereitschaft auf der vierten UNCTAD-Konferenz
1976 in Nairobi offenkundig zu sein schien, stellte sich als
halbherziges Zugeständnis heraus. Als Erklärungshilfe kann bereits
das Abstimmungsergebnis bezüglich der UN-Resolution 3281 (XXIX)
dienen, welche die Erklärung zur Errichtung einer neuen
internationalen Wirtschaftsordnung" umfasst. Das Dokument wurde auf
der 6.Sondertagung der UN-Generalversammlung in New York mit 117 zu
6 Stimmen bei 10 Enthaltungen angenommen (Ansprenger 2000: 170).
Unter den Gegenstimmen befanden sich die der USA, Großbritanniens
und der Bundesrepublik Deutschland, wodurch bereits drei der
wichtigsten G-7-Staaten und Kreditgebern ablehnend reagierten.
Die wirtschaftspolitische Position in der Bundesrepublik Deutschland
spiegelt sich in einem im April 1976 veröffentlichte Memorandum des
"Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V." (BDI) unter dem Titel
"Zur Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Industrie-
und Entwicklungsländern" wieder. Darin erklärt der von der
UN-Resolution 3281 (XXIX) direkt betroffene BDI bezüglich der
globalen Entwicklungsproblematik: "Die Entwicklungsländer fordern
die Errichtung einer sogenannten Neuen Weltwirtschaftsordnung und
meinen damit den weitgehenden Ersatz der liberalen
marktwirtschaftlichen Prinzipien durch eine planwirtschaftliche
Lenkung. Demgegenüber ist festzustellen, dass die bisherige
Welthandelsordnung sich in den vergangenen Jahrzehnten als besonders
leistungs- und anpassungsfähig erwiesen hat. Sie hat nicht nur zu
einer enormen Steigerung des Welthandels geführt, sondern sich auch
in kritischen Zeiten der wirtschaftlichen Rezession, der
Energiekrise und der weltweiten inflationären Entwicklung bewährt.
(...) Wenn die Entwicklung der internationalen
Wirtschaftsbeziehungen hinter den Erwartungen vieler
Entwicklungsländer zurückblieb, so ist das keine Folge einer
falschen Weltwirtschaftsordnung, sondern des unterschiedlichen
Ausgangsniveaus, ihrer nationalen Wirtschaftspolitiken, der
selbstgesetzten Prioritäten und der Nutzung ihrer eigenen
Ressourcen. Die Aufgabe besteht darin, die Wettbewerbsfähigkeit der
Entwicklungsländer zu stärken, ihre Strukturen zu verbessern und auf
diese Weise ihre Einfügung in den organischen Kreislauf der
Weltwirtschaft zu fördern" (BDI 1976).
Die Position des BDI verdeutlicht die allgemeine Sorge vor der
grundsätzlichen Neuordnung des weltwirtschaftlichen Systems
zugunsten der bisher benachteiligten Staaten. Die in der "Neuen
Weltwirtschaftsordnung" festgehaltenen Änderungsziele würden bei
einer entsprechenden Umsetzung das derzeitige Kräfteverhältnis
nachhaltig verändern. Das führt zwangsläufig zu Marktanteilverlusten
und Gewinneinbußen in den Industrieländern. Allerdings verdeutlicht
Resolution 3281 (XXIX), dass es sich nicht um den Versuch handelt,
"liberale marktwirtschaftliche Prinzipien durch eine
planwirtschaftliche Lenkung" zu ersetzen, wie es der BDI annimmt,
sondern um den Versuch, "gerechte Relationen zwischen den Preisen
von Rohstoffen, Grundstoffen, Fertigwaren und Halbfertigwaren, die
von Entwicklungsländern exportiert werden, und den Preisen von
Rohstoffen, Grundstoffen, Fertigwaren, Investitionsgütern und
Industrieausrüstung, die von ihnen importiert werden, mit dem Ziel,
eine beständige Verbesserung ihrer unbefriedigenden
Handelsbedingungen sowie die Expansion der Weltwirtschaft
herbeizuführen"(vgl. Abb. 1).
4.4. Die Dependenztheorien als Entwicklungsparadigma der 1970er
Jahre
Begleitet wurde die Schaffung einer "Neuen
Weltwirtschaftsordnung" von der anhaltenden Diskussion über die
bestehenden Möglichkeiten alternativer Entwicklungswege. Im
Mittelpunkt standen die Dependenztheorien (Dependencia), die
insbesondere von lateinamerikanischen Sozialwissenschaftlern
vertreten wurden. Dieser Theorieansatz weist eine enge
Verwandtschaft mit Entwicklungsmodellen auf, die - im Falle der
Imperialismustheorien [51] - in den 1970er Jahren eine Renaissance
erfahren hatten bzw. von ihnen beeinflusst worden waren. Dazu
zählten einerseits das "Zentrum-Peripherie-Modell" von Johan Galtung,
andererseits die "World-System-Theory" von Immanuel Wallerstein [52].
Das "Zentrum-Peripherie-Modell" des schwedischen Soziologe und
Friedensforschers Johan Galtung bezieht sich auf die strukturellen
Erscheinungsformen der Abhängigkeit innerhalb sowie zwischen den
Industrieländern (Nationen im Zentrum) und den Entwicklungsländern
(Nationen in der Peripherie). In seinem "Imperialismus und
strukturelle Gewalt" stellt Galtung die Behauptung auf, dass eine
Interessenharmonie zwischen den Eliten im Zentrum und den Eliten in
der Peripherie bestände. Interessen sind durch ihn definiert als
Lebensbedingungen, Lebensstandard und Einkommen. Zwischen der
Peripherie im Zentrum und der Peripherie in der Peripherie herrsche
allerdings eine Interessendisharmonie, da die sozialen und
wirtschaftlichen Disparitäten der Menschen in den Industrieländern
und derer in den Entwicklungsländer immer stärker zunähmen (Galtung
1972: 38).
Die vom US-amerikanischen Sozioökonom Immanuel Wallerstein
konzipierte "Theorie des Welt-Systems" besagt, dass ein System
weltweiter, ungleicher Arbeitsteilung existiere. Als
Hauptantriebskraft fungiere die unbegrenzte Kapitalakkumulation, die
einen intensiven Wettbewerb von Staaten um Grundstoffe, Transport-
und Kommunikationsmittel, Absatzmärkte und Arbeitskräfte bewirke. In
dessen Verlauf würden insbesondere die bisher nicht erschlossenen,
peripheren Ökonomien einbezogen (vgl. Ausbreitung der
Kolonialmächte). Dies führe zu einer struktureller Heterogenität, da
die Expansion und das Wachstum ungleich schnell erfolge und
unterentwickelte Zonen als Subsysteme entstehen lasse (Wallerstein
1974).
Im Rahmen des lateinamerikanischen Soziologenkongresses in Mexiko
(1969) erhoben die lateinamerikanischen Soziologen die
Dependenztheorien zu ihrem Entwicklungsparadigma (Hein 2000: 82).
Die Dependenztheoretiker verstanden ihren Entwicklungsansatz nicht
als Alternative zum modernisierungstheoretischen, sondern als
bewusstes Gegenmodell zu diesem. Das belegte die grundlegende Kritik
am Entwicklungsparadigma der vorangegangenen Dekade, die
insbesondere von den Werken André Gunder Franks, Immanuel
Wallersteins und Fernando Henrique Cardoso ausging.
Ausgelöst hatte die Diskussion über die "Internationale
Arbeitsteilung" der argentinische Ökonom Raúl Prebisch, späterer
Direktor der CEPAL [53] (1950-1962) sowie erster Generalsekretär der
UNCTAD (1964-1969). Bereits 1949 hatte Prebisch im CEPAL-Bericht auf
die asymmetrischen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen
Industrieländern und den lateinamerikanischen Entwicklungsländern
hingewiesen und den Begriff der "säkularen Verschlechterung der
Terms of Trade" [54] eingeführt.
4.5. Die Theorie "Entwicklung der Unterentwicklung" von André
Gunder Frank als Beispiel für einen dependenztheoretischen Ansatz
Die Dependenztheorien wurden von Prebisch These entscheidend
beeinflusst. Zu ihren Hauptvertretern gehörte André Gunder Frank.
Der US-amerikanische Sozioökonom deutscher Herkunft vertrat die
Ansicht, die Ursachen für die gegenwärtige Unterentwicklung in
Lateinamerika lägen in der jahrhundertelangen Einbindung der
lateinamerikanischen Ökonomien in das vorherrschende
Weltwirtschaftssystem. Die Wurzeln seien bereits in der Kolonialzeit
zu finden: "Die Teilnahme dieser Gebiete an der Entwicklung des
kapitalistischen Weltsystems gab ihnen, bereits in ihrem goldenen
Zeitalter, die typische Struktur der Unterentwicklung einer
kapitalistischen Exportwirtschaft. Wenn der Markt für ihren Zucker
oder der Wert für ihre Minen verschwand und die Metropole sie ihrer
eigenen Erfindungskraft überließ, verhinderte die bereits bestehende
ökonomische, politische und soziale Struktur dieses Gebietes eine
autonome ökonomische Entwicklung und ließ ihnen keine Alternative,
als sich in sich selbst zurückzuziehen und zu Ultra-Unterentwicklung
zu degenerieren, die wir heute dort vorfinden" (Frank 1975: 179).
Die Kritik Franks richtete sich gegen die Prämissen
modernisierungstheoretischer Ansätze. Dazu zählten Annahmen von der
Existenz dualistischer Gesellschaften ebenso wie die Vorstellung
einer idealtypischen Stadienentwicklung jeder Gesellschaft wie sie
Rostow vertrat: "Unsere Ignoranz gegenüber der Geschichte der
unterentwickelten Länder führt uns dazu anzunehmen, ihre
Vergangenheit und in der Tat auch ihre Gegenwart entspreche früheren
Stadien der Geschichte der jetzt entwickelten Länder. (...) Ich
glaube im Gegenteil, dass die ganze These von der "dualen"
Gesellschaft falsch ist (...)" (Frank 1975: 171f.). Der 1933 aus
Deutschland emigrierte Frank widersprach den Dualismustheorien
energisch, gründete jedoch selbst die Gesamtheit seine Hypothesen
auf einen fundamentalen Dualismus. André Gunder Frank behauptete,
dass sich eine Welt in ein System aus Metropolen und ihren
Satelliten aufgliedern lasse, und "daß in dieser weltumfassenden
Struktur des Verhältnisses der Metropolen zu den Satelliten die
Metropolen dazu bestimmt sind, sich zu entwickeln, wohingegen die
Satelliten unterentwickelt werden" (Frank 1975: 176).
Die dependenztheoretischen Ansätze, wie sie von einem ihrer
radikalsten Anhänger (Frank) vertreten wurden, fielen in eine Zeit,
als die Wachstumsstrategien stärker in die Kritik geraten und die
Weltwirtschaftskrise im Anschluss an die Ölkrise Zweifel an der
Unverwundbarkeit des politischen Westens aufkommen ließen. Der
Zustand eines sich selbst tragenden Wachstums hatte sich in der
Mehrzahl der Entwicklungsländer nicht eingestellt, da u.a. die
erhoffte Importsubstitution von fertig- und Halbfertigwaren,
Investitionsgütern und Konsumgütern nicht erreicht worden war.
Das Aufkommen der Dependenztheorien trug dazu bei, dass die
entwicklungspolitische Debatte eine andere Dynamik erhielt. Dazu
beigetragen hat André Gunder Frank durch seine radikalen,
eindeutigen Thesen, die in der lateinamerikanischen und
europäisch-marxistischen Sozialwissenschaft Anhänger fanden. Hinzu
kam, dass Frank eine neue Sichtweise einbrachte, da sich seine
Position nicht allein auf die außenwirtschaftlichen Beziehungen
zwischen Industrie- und Entwicklungsländern konzentrierte, sondern
die Durchdringung binnenwirtschaftlicher Strukturen im Kontext des
"kapitalistischen Weltsystems" erfasste: "(...) Diese Beziehungen
zwischen Metropolen und Satelliten [sind] nicht auf das
imperialistische oder internationale Niveau beschränkt, sondern sie
durchdringen und strukturieren gerade das wirtschaftliche,
politische und soziale Leben der lateinamerikanischen Kolonien und
Länder" (Frank 1975:173).
Franks Modell trug dazu bei, von einer ahistorischen und auf rein
endogene Entwicklungshemmnisse beschränkte Sichtweise - wie es den
Modernisierungstheorien vorzuwerfen war - abzurücken. Die stärkere
Einbeziehung des "kolonialen Erbes" erfolgte erst mit dem Aufkommen
der Dependenztheorien. Annähernd zwei Dekaden hatten die
Modernisierungstheoretiker jene entwicklungshemmenden, in der
Kolonialzeit geschaffenen Strukturen aus ihren Überlegungen
weitgehend ausgegrenzt, die in der postkolonialen Phase noch so
offensichtlich zu sein schienen.
4.6. Die Kritik an den dependenztheoretischen
Entwicklungsansätzen
Die Linearität des Erklärungsansatzes, die den
Modernisierungstheoretikern vorgeworfen worden war, erfassten
allerdings ebenso die Dependenztheoretiker. André Gunder Franks ist
vorzuhalten, dass ihn die gleiche einseitige Betrachtungsweise der
Entwicklungsproblematik ereilt hatte, wie schon seinen
US-amerikanischen Vorgängern der vorangegangenen Dekade. Seine
Theorie von der "Entwicklung der Unterentwicklung" stütze sich auf
umfangreiche eigene Analysen zu Lateinamerika, unter besonderer
Berücksichtigung der historischen Vorkommnisse. Allerdings beging
Frank - ebenso wie weitere Dependenztheoretiker - den Fehler allein
exogene Faktoren, die im "kapitalistischen Weltsystem" und in der
"internationalen Arbeitsteilung" zu suchen waren, als einzig
gültigen Verursacher für Unterentwicklung und Dependenz zu erklären.
Die offensichtlichen und nicht zu ignorierenden endogenen Faktoren
interpretierte der US-amerikanische Sozioökonom als Resultat der
Einbindung der "Satelliten" in die "Internationale Arbeitsteilung":
"Kurz, wir müssen daraus folgern, dass die Unterentwicklung weder
vom Überleben archaischer Institutionen herrührt noch vom
Kapitalmangel in Gebieten, die vom Strom der Weltgeschichte isoliert
geblieben sind. Im Gegenteil, sie wurde und wird von dem gleichen
historischen Prozess erzeugt, der auch die ökonomische Entwicklung
erzeugte, der Entwicklung des Kapitalismus selbst" (Frank 1975:
176).
Aus den Ausführungen Franks lässt sich ein weiterer Kritikpunkt an
den dependenztheoretischen Modellen ableiten: Offensichtlich wird
die starke Konzentration ihrer Autoren auf die in der Kolonialzeit
und von den "kapitalistischen Metropolen" geschaffenen
Entwicklungsbedingungen, die dazu verleiteten, sämtliche
Fehlentwicklungen und Misserfolge in der Entwicklungsgeschichte
darauf zurückzuführen. Eingeständnisse oder gar Schuldbekenntnisse "kleptokratischer"
und autoritärer Regierungen fanden sich daher nur selten. Der
brasilianische Soziologe Fernando Henrique Cardoso beging diesen
Fehler nicht. Der heutige Staatspräsident Brasiliens gab im Jahre
1969 zusammen mit Enzo Faletto das Werk "Dependencia y desarrollo en
América Latina" [55] heraus. Darin vertraten Cardoso und Faletto
einen modifizierten dependenztheoretischen Ansatz, der sich u.a.
dadurch von marxistisch beeinflussten Dependenztheorien (vgl. Frank)
unterschied, dass er die Reduktion auf rein exogene Verursacher für
Unterentwicklung vermied. Statt dessen setzten sich Cardoso und
Faletto für eine historisch- und länderdifferenzierte,
multidimensionale Betrachtungsweise ein, die die Abhängigkeit und
internationale Einbindung Lateinamerikas durchaus erfasse; jedoch
nicht als "metaphysische Abhängigkeitsbeziehung zwischen einer
Nation und einer anderen", sondern als Folge eines Geflechts von
Interdependenzen, von Interessen und Zwängen bestimmter
Gesellschaftsgruppen, die sie an andere, bestimmte soziale Klassen
bänden (Cardoso 1979: 211). Das impliziert sowohl endogene
Abhängigkeitsbeziehungen zwischen lokalen Eliten und
marginalisierten Gruppen als auch exogene Dependenzen zu
multinationalen Unternehmen, zu Regierungen oder multilateralen
Organisationen.
Die Theorie von Cardoso und Faletto war ein Schritt zu einer
mehrdimensionalen Sichtweise der Entwicklungsproblematik. Allerdings
fanden ihre Forderungen zu Beginn der dritten Entwicklungsdekade
(1981-1990) vorerst kein Gehör. Die Entwicklungspolitik hatte einen
erneuten Paradigmenwechsel erfahren. Das Paradigma beruhte
allerdings auf keiner klassischen wissenschaftlichen Leistung,
sondern allein auf der allgemeinen Erkenntnis im Norden wie im
Süden, dass die Armut und Unterentwicklung auch nach zwei
Entwicklungsdekaden nicht in den Griff bekommen worden war.
Zusätzlich angestoßen wurde die Diskussion über die Inhalte der
zukünftigen internationalen Zusammenarbeit durch die
Bankrotterklärung der mexikanischen Regierung (1982) und der
folgenden sogenannten Schuldenkrise. Die Eindimensionalität beider
großer Theorien hatte verhindert, dass die Heterogenität der
Probleme in ihrer Breite und Tiefe erfasst worden war. Entwicklung
ergab sich weder allein durch entsprechende Wachstumserfolge noch
allein durch Dissoziation und Autozentrismus. Es folgte eine Phase
der Restrukturierung in Entwicklungspolitik und internationaler
Entwicklungszusammenarbeit.
(c) Dipl.-Geogr. Johannes Winter,
Weltpolitik.net
[45] Zur 1968 gegründeten "Organization of the
Arab Petroleum Exporting Countries" (OAPEC) zählen heute folgende
zehn Staaten: Ägypten, Algerien*, Bahrain, Irak*, Katar*, Kuwait*,
Lybien*, Saudi-Arabien*, Syrien sowie die Vereinigten Arabischen
Emirate*. Die mit einem Stern gekennzeichneten Staaten sind zugleich
Mitglied der 1960 gegründeten OPEC (Organization of the Petroleum
Exporting Countries).
[46] Der Begriff bezieht sich auf den (ungleichen) internationaler
Handel zwischen Industrieländern als Anbieter von hochentwickelten
Fertig- und Produktionsgütern und Entwicklungsländern als Exporteure
von unverarbeiteten agrarischen und mineralischen Rohstoffen.
[47] Bezüglich des ausführlichen Forderungskataloges vgl. Senghaas,
D. (1977): Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer
für Dissoziation (S. 217ff.). Suhrkamp, Frankfurt sowie Ochel, W.
(1982): Die Entwicklungsländer in der Weltwirtschaft (S.258). Köln.
[48] Vgl. dazu insbesondere Abb. 1, Unterpunkt e), j) und t) sowie
Abb. 2, Kapitel 2, Artikel 5, 14 und 18.
[49] Vgl. Unterpunkt (t) des Absatzes IV der "Erklärung zur
Errichtung einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung" sowie
Artikels 5 der "Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten von
Staaten".
[50] Das Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen
Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union und den AKP-Staaten
umfasste am Ende von "Lomé IV" 15 Industrie- und 68
Entwicklungsländer. Der Nachfolgevertrag, das sogenannte "Abkommen
von Cotonou", wurde am 23.6.2000 von den 15 Mitgliedsstaaten der EU
und den derzeit 77 AKP-Staaten in Cotonou (Benin) unterzeichnet. Es
sah umfangreiche Reformen des Lomé-Abkommens vor, die sich u.a. auf
die Neugestaltung der Handelsbeziehungen bezogen. Mit der Schaffung
eines Wirtschaftspartnerschaftsabkommens (EPA) soll der Forderung
nach einer weiteren Liberalisierung der Handelsbeziehungen zwischen
EU und den AKP-Staaten Rechnung getragen werden (Bundesministerium
für Wirtschaft und Arbeit 2001:
http://www.bmwa.gv.at/organisation/sekii/sekii/21be.htm).
[51] Die Imperialismustheorien wurden entscheidend von der Lehre
Karl Marx beeinflusst und stützen sich auf zentrale Aspekte seines
Werkes "Das Kapital". Zu den klassischen Ansätzen gehören die
Theorien von Lenin ("Der Kapitalismus als höchste Form des
Imperialismus") und Rosa Luxemburg. Sie haben gemein, dass sie die
Dominanz der Entwicklungsländer durch die Industrieländer
hervorheben. Diese sei Folge der territorialen und kapitalistischen
Expansion der Industrieländer. Die territoriale Expansion diene im
Verständnis politökonomischer Imperialismustheorien vorrangig dazu,
die Expansion des Kapitals zu forcieren. In Anlehnung an Karl Marx
ergeben sich in den kapitalistischen Ökonomien "Verwertungsprobleme"
(Wachstumsprobleme). Das Kapital stoße im nationalen Rahmen auf
seine Grenzen und müsse daher expandieren. Die Ursache dafür läge in
der Unfähigkeit der imperialistischen Länder, mit den Entwicklungen
permanenter wirtschaftlicher und technologischer Innovation und
ihren gesellschaftlichen Auswirkungen zurechtzukommen. In den
Entwicklungsländern entwickele sich durch die fremdbeherrschenden
Einflüsse ein moderner, exogen abhängiger Sektor. Dieser trage dazu
bei, dass die Disparitäten innerhalb des Landes zunähmen und somit
die binnenwirtschaftlichen Strukturen in negativer Hinsicht
entscheidend beeinflusst seien.
[53] CEPAL (Comisión Económica para América Latina y el Caribe): Die
UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik wurde im
Jahre 1948 gegründet. Zu ihren Aufgaben zählt die Evaluierung und
wissenschaftliche Analyse des lateinamerikanischen und karibischen
Entwicklungsprozess anhand der Zielangaben der
UN-Entwicklungsdekade.
[54] Die "Terms of Trade" (ToT) bezeichnen das Verhältnis zwischen
Exportpreisindex und Importpreisindex einer Ökonomie. Vereinfacht
dargestellt, drücken die ToT aus, welche Menge an Exportgütern in
einem bestimmten Zeitraum aufgebracht werden müssen, um die
konstante Menge an Importgütern erwerben zu können. Eine
langfristige Zunahme der aufzubringenden Exportgütermenge würde eine
Verschlechterung der "Terms of Trade" bedeuten. Bezüglich der
lateinamerikanischen Entwicklungsländer nahm Prebisch an, dass sich
langfristig ihre "ToT" verschlechterten, wodurch sie gezwungen
seien, eine zunehmend große Menge an Rohstoffen aufbringen zu
müssen, um Industriegüter, Fertigwaren etc. erwerben zu können.
[55] In deutscher Sprache 1976 unter dem Titel "Abhängigkeit und
Entwicklung in Lateinamerika" beim Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M.
erschienen.
|