Gastbeitrag: Dipl.-Geogr.
Johannes Winter |
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5. Entwicklung Bedeutet Strukturanpassung - Die Renaissance der
Modernisierungstheorien in den 1980er Jahren
5.1. Die Schuldenkrise und ihre Bedeutung für den
Bedeutungszuwachs der Modernisierungstheorien
Infolge der weltweiten Rezession zu Beginn der 1980er Jahre, die
bereits mit den beiden Ölkrisen (1973; 1979/80) ihren Anfang
genommen hatte, griffen insbesondere die USA auf "strategische
Variablen zur Gegensteuerung" zurück. Allerdings handelte es sich
dabei nicht um Versuche der zeitweiligen Abkoppelung oder regionalen
Kooperation; die US-amerikanische Regierung unter Präsident Ronald
Reagan bediente sich zur Überwindung der Wirtschafts- und
Finanzkrise der Lehren des US-amerikanischen Ökonomen John Maynard
Keynes. Dieser hatte im Gegensatz zu den neoklassischen Theorien die
These vertreten, dass ein entsprechendes Wirtschaftswachstum auch
ohne vollkommene Auslastung der Produktionsfaktoren möglich sei.
Keynes verwies darauf, dass sich der Wohlstand einer Volkswirtschaft
an ihrer Investitionstätigkeit orientiere und daher in Zeiten von
Rezession, Unterbeschäftigung und mangelnder Kapazitätsauslastung
der Investitionstätigkeit eine höhere Priorität eingeräumt werden
müsse als der Spartätigkeit (Keynes 1936).
Die von der Regierung Reagan veranlassten kreditfinanzierten
Konsolidierungsprogramme bewirkten eine Verdoppelung der
amerikanischen Staatsschulden innerhalb weniger Jahre
(1981-1984) [56]. Begleitet waren diese Entwicklungen von einem
weltweiten Zinsanstieg, der zu Beginn der 1980er Jahre die bereits
vom Rohstoffpreisverfall (v.a. Erdöl) angeschlagene mexikanische
Volkswirtschaft in die Zahlungsunfähigkeit stürzte. Am 13. August
1982 erklärte der damalige mexikanische Finanzminister Jesús Silva
Herzog die Einstellung sämtlicher Schuldendienste. Weitere
lateinamerikanische Staaten wie Brasilien und Argentinien befanden
sich in einer vergleichbaren Situation. Betroffen davon waren neben
staatlichen Gläubigern v.a. private Bankgesellschaften in den
Industrieländern, die in Abhängigkeit ihrer Aktionsfelder durch die
Schuldenkrise z.T. massiv in ihrer Existenz bedroht waren. Erneut
zeigte sich die Interdependenz zwischen Industrie- und
Entwicklungsländern und die Notwendigkeit, regionale Probleme in
einem globaleren Kontext zu sehen. Insbesondere kleinere Banken
zogen sich aus dem Kreditgeschäft mit den Entwicklungsländern
zurück, wodurch sich die dortigen Liquiditätsprobleme zusätzlich
verstärkten.
Die Schuldenkrise hatte den betroffenen Entwicklungsländern das
Verhandlungspotential genommen und die Abhängigkeiten von ihren
Gläubigern in den Industrieländern zusätzlich verstärkt. Die
Modernisierungstheoretiker der ersten Dekade fühlten sich in ihren
Vorstellungen bestätigt. Gleichzeitig verloren jene Dokumente und
Positionen an Bedeutung, die sich - u.a. auf Initiative der Weltbank
- in kritischer Weise mit der Ausrichtung der Entwicklungspolitik
beschäftigt hatten. Dazu zählten beispielsweise der
"Brandt-Bericht" [57] (1980) und die "Erklärung von Cocoyoc" [58]
(1974).
Der "Brandt-Bericht" wurde im Auftrag des damaligen
Weltbankpräsidenten Robert McNamara von der "Unabhängigen Kommission
für Internationale Entwicklungsfragen" vorgelegt. Darin äußerte sich
der Vorsitzende der Kommission Willy Brandt wie folgt: "Man muß sich
von der Vorstellung frei machen, als hätte die ganze Welt die
Modelle hochindustrialisierter Länder nachzuahmen. Es gilt, von der
ständigen Verwechslung zwischen Wachstum und Entwicklung
loszukommen, und wir unterstreichen mit Nachdruck, dass das
eigentliche Ziel der Entwicklung eines Landes in dessen
Selbsterfüllung und schöpferischer Partnerschaft liegt. Seine
produktiven Möglichkeiten und sein menschliches Potential können nur
dann zur Entfaltung kommen. Wir müssen uns von der Vorstellung frei
machen, unser Problem ergebe sich allein daraus, dass "entwickelte
Länder" existieren und solche, die "entwickelt" werden wollen. Im
übrigen ist ja auch im Norden der technologische und ökonomische
Entwicklungsprozess noch keineswegs abgeschlossen, und es wird
mittlerweile heftig darüber diskutiert, wie künftiger Fortschritt
aussehen soll - mit andersartigen Technologien und einer weniger
verschwenderischen Art zu leben. Wachstumsideologien im Norden (...)
haben sich zu wenig mit der Qualität von Wachstum befaßt" (UKIE
1980: 33).
Die Erkenntnisse, die der "Brandt-Bericht" lieferte, spiegelten den
vorübergehenden - wenn auch z.T. erzwungenen - Bewusstseinswandel in
der westlichen Entwicklungspolitik wieder. Die Entwicklungspolitik
der Industrieländer orientierte sich am Übergang von der zweiten zur
dritten Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen nun stärker an den
Bedürfnissen derjenigen, die ihrer Meinung nach "entwickelt" werden
sollten. Auch wuchs die Einsicht, durch die unilineare
entwicklungspolitische Ausrichtung der Vergangenheit die
Qualitätsansprüche und die Realitätsbezogenheit vernachlässigt zu
haben. Der Hinweis Willy Brandts, auch die Industrieländer befänden
sich in einem Entwicklungsprozess, legt den Gedanken nahe, dass
nicht nur mit den Vertretern der Entwicklungsländer die
Grundsatzfragen zur Ausrichtung der Entwicklungspolitik erörtert
werden müssen, sondern die gleiche Diskussion - wenn auch auf andere
Handlungsfelder bezogen - im Norden stattfinden muss. Diese
Erweiterung des Entwicklungsverständnisses erhielt allerdings
infolge der globalen wirtschaftspolitischen Ereignisse, der
entwicklungspolitischen Theoriekrise und der damit in Zusammenhang
stehende Renaissance der Modernisierungstheorien nicht die
gewünschte Beachtung. Erst in der vierten Entwicklungsdekade fanden
sich zentrale Aussagen und Forderungen des "Brandt-Berichts" in
Dokumenten wie der Agenda 21 wieder und erbrachten somit einen
internationalen Konsens über die Bedeutung eines globaleren,
nachhaltigeren Entwicklungsverständnisses (Þ 6.1.).
5.2. Strukturanpassung als Mittel zur Wiederherstellung der
Zahlungsfähigkeit
Die internationalen Versuche zur Lösung der Schuldenkrise
konzentrierten sich vorrangig auf die multilateralen Organisationen.
Die Weltbankgruppe [59] und der Internationale Währungsfonds
entwickelten sich zu den entscheidenden Akteuren im
Bewältigungsprozess. Die Politik der Bretton-Woods-Organisationen
unterschied sich nun deutlicher von ihrem Vorgehen in den 1970er
Jahren. Der in der vorangegangenen Dekade eingeschlagene Weg zu
einer stärker armuts-, beschäftigungs- und
grundbedürfnisorientierten Entwicklungspolitik wurde nun vorerst
aufgegeben. Statt dessen sahen die Weltbank und der IWF umfangreiche
Maßnahmen zur Strukturanpassung (Structural adjustment) der kranken
Ökonomien vor. Mit Hilfe der geschaffenen "Enhanced Structural
Adjustment Facility" unterstütze der IWF v.a. jene Staaten, die in
besonderem Maße unter der Schuldenkrise litten. Die Kredite zu
besonders günstigen Bedingungen zogen allerdings Bedingungen nach
sich. Das Schuldnerland sah sich dazu gezwungen, die von Weltbank
und IWF vorgegebene Konsolidierungspolitik mitzutragen. Mittels
neoliberaler wirtschafts- und finanzpolitischer Strukturreformen
sollte die Konsolidierung des Staatshaushaltes und die
Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit erreicht werden. Die
Strukturanpassungsprogramme (Economic Recovery Programms; ERP) sahen
deregulierende und liberalisierende Maßnahmen vor, worunter
Steuersenkungen, die Abwertung überbewerteter Währungen sowie der
Abbau der staatlichen Subventionspolitik für Agrargüter und
Rohstoffe fielen. Zudem kam es zur Entlastung des Staatshaushaltes
zu Lohn- und Sozialkürzungen. Langfristiges Ziel war es, durch die
konsequente Anwendung der Strukturanpassungsprogramme die
marktwirtschaftlichen und weltmarktintegrativen Strukturen zu
festigen. Darüber hinaus galt es - und dieser Gedanke erscheint mir
von besonderer Bedeutung -, durch die Wiederherstellung der
Zahlungsfähigkeit dazu beizutragen, dass die Forderungen des
Gläubigers an den Schuldner gedeckt werden können. Der von
Dependenztheoretikern vielfach zu vernehmende Vorwurf, die
"Internationale Arbeitsteilung" fördere den Ressourcenabzug aus den
Entwicklungsländern bewahrheitete sich - je nach landesspezifischen
Voraussetzungen - bezüglich des partiellen Rückflusses der
IWF-Kredite an die Gläubiger.
Dieser utilistische Gedanke lässt sich dadurch erklären, dass
Weltbank und IWF keine politisch unabhängigen und eigenständigen
Organisationen sind, sondern ihren Anteilseignern verpflichtet sind.
Die Abstimmungsmodalitäten orientieren sich - anders als im UNCTAD -
an den Kapitalanteilen der Mitgliedsstaaten. Dies beinhaltet, dass
die führenden Industrieländer - wie die G-7 - aufgrund ihres
eingebrachten Kapitals ein deutlich höheres Stimmgewicht besitzen
als kapitalschwache Mitgliedsstaaten.
Die Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und IWF wurden von
Beginn an sehr kontrovers bewertet. Die Kritik von Seiten
verschiedener NGO's, aus Wissenschaft und Politik konzentrierte sich
auf die durch die Strukturanpassung entstandenen sozialen Kosten.
Die Einsparungen im Gesundheits- und Bildungswesen, der Rückzug aus
der Subventionspolitik, der Abbau von Arbeitsplätzen und Lohnkosten
sowie weitere Maßnahmen trugen dazu bei, dass die sozialen und
wirtschaftlichen Disparitäten in vielen Transformationsländern
zunahmen.
Diesbezüglich äußerte sich der Industrie- und Handelsminister
Zimbabwes, Nathan Shamuyarira, in einem Interview im Jahre 1997 wie
folgt: "Es gibt sehr viel Kritik an ESAP, selbst unter den
Abgeordneten im Parlament, weil es infolge der Entlassungen in der
Industrie zu erhöhter Arbeitslosigkeit geführt hat und auch zu hohen
Preisen für Grundnahrungsmittel. Auch die Privatisierung hat zu
Preissteigerungen geführt, vor allem die der großen vier
parastaatlichen Institutionen in der Landwirtschaft, das waren der
Grain Marketing Board für Getreide, die Cold Storage Commission für
Fleisch, der Cotton Board für Baumwolle und der Dairy Board für
Milch. Diese vier waren seit den Dreißiger Jahren halbstaatliche
Unternehmen gewesen, um die Bauern zu unterstützen und sie zu
subventionieren. Im Zusammenhang mit ESAP schränkten wir diese
Subventionen ein, und die Preise stiegen natürlich. Ein Liter Milch
z. B. kostete früher 92 Cents, heute ca. 7 Zimbabwe-Dollar. Dazu kam
eine 22 prozentige Inflation, und das Geld, das ein Arbeiter in der
Tasche hat, ist heute viel weniger wert als vor zehn Jahren" (INDABA
1997).
Dem gegenüber standen Positionen aus Weltbank-, Politik- und
Wissenschaftskreisen, welche - verallgemeinernd formuliert - die
sozialen Kosten als "notwendiges Opfer" auf dem Weg zur
institutionellen und wirtschaftspolitischen Strukturanpassung
ansahen. Zur Reduktion des Leistungsbilanz- und Haushaltsdefizits
seien Lohnverzicht, Arbeitsplatzabbau und Kürzungen im Sozialwesen
unerlässlich, zumal es zu derartigen Einschnitten keine Alternative
gebe. Diesbezüglich äußerte sich der Politologe Joachim Betz: "In
der frühen Kritik an den Anpassungsprogrammen wurde oft behauptet,
diese würden vor allem den ärmeren Schichten in Entwicklungsländern
, die ohnedies schon am oder unterhalb des Existenzminimums lägen,
zusätzliche Opfer abverlangen und diese Programme würden die
Einkommenskonzentration weiter fördern. Diese Behauptungen gehen
weitgehend an der Empirie vorbei. Sie blenden die Frage aus, wie
sich die Lage der Armen vorher darstellte und unter einem
alternativen Szenario entwickelt hätte und vermischen
unzulässigerweise die Verschlechterung der außenwirtschaftlichen
Bedingungen und die Auswirkungen der übermäßigen Verschuldung, die
beide ja eine Reduktion der internen Absorption erzwingen, mit den
konkreten sozialen Auswirkungen von Anpassungsprogrammen. Im übrigen
beobachtete man in afrikanischen Entwicklungsländern, die
Strukturanpassungsprogramme verfolgt haben (...), keine
Verschlechterung der Sozialindikatoren langfristigen Charakters
(Lebenserwartung, Kindersterblichkeit etc.), allenfalls eine gewisse
Fluktuation der mittelfristigen Indikatoren (Kalorienaufnahme,
Einschulungsrate etc.) mit einer leichten Verschlechterung" (Betz
1994: 437).
Zur Abfederung der sozialen Folgeschäden der
Strukturanpassungsprogramme schuf die Weltbank im Oktober 1987
gemeinsam mit dem "United Nations Development Programm" (UNDP) und
der "African Development Bank" (ADB) das "Social Dimensions of
Adjustment program" (SDA). Erklärtes Ziel des Programms war es, "to
assist participating African countries to integrate poverty and
social concerns in the design and implementation of their adjustment
programs so as to mitigate the burden on the poor in the process of
structural adjustment" (The SDA Steering Commitee 1993: 67). Die
hochgesteckten Ziele konnten allerdings nur teilweise erreicht
werden. Durch die Stärkung des institutionellen Rahmens, die
Implementierung sozialer Aktionsprogramme, die Verbesserung der
nationalen Informationssysteme sowie durch die Einbeziehung
empirischer Studien bezüglich der Auswirkungen der
Interventionspolitik auf Makro- und Mikroökonomie gelang es, die
bisher vernachlässigten Bevölkerungsschichten ausgewählter Regionen
stärker einzubeziehen. Allerdings variierten die Erfolge des SDA in
Abhängigkeit der lokalen Strukturen in den verschuldeten Ländern.
Ein Evaluierungsbericht der Weltbank kam zu dem Ergebnis, dass die
bereitgestellten Mittel von den Regierungen bisweilen als besondere
Zuwendung zur Unterstützung gesellschaftlicher Schlüsselgruppen
verstanden wurden und dadurch ihr Ziel verfehlten: "Programs
designed to adress the social costs of adjustment were often viewed
by governments as "sweeteners", designed to maintain the support of
key interest groups rather than as genuine attemps to protect the
poor and vulnerable, who had little stake in the existing system and
a correspondingly weak political voice. This context has clearly had
effects on the ability - or inability - of SAP/SFs [60] to simultaneously attain the objectives of protecting the needy and
enhancing political sustainability (...)" (Marc/Graham/Schacter
1993: 31)
Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen dem nur bedingten
Erfolg der Strukturanpassungsprogramme und ihrer einseitig auf den
ökonomischen Erfolg ausgerichteten Programmplanung und -durchführung
sowie der dadurch entstandenen Vernachlässigung sozioökonomischer,
kultureller und ökologischer Gesichtspunkte besteht. Allerdings ist
von einer "Weltbank" und einem "Währungsfonds" nicht zu erwarten,
dass sie sich von den in ihren Statuten festgelegten Grundsätzen
entfernen. Auch wenn der erklärte Traum der Weltbankgruppe eine Welt
frei von Armut ist, so darf nicht ihre eigentliche Funktion außer
acht gelassen werden: die Weltbank und der IWF sind in erster Linie
Kreditgeber und keine humanitäre Hilfsorganisationen.
Eine Strukturanpassung ist grundsätzlich sinnvoll, v.a. dann, wenn
es darum geht, einen langfristig stabilen und funktionsfähigen
institutionellen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und
ökologischen Rahmen zu schaffen. Allerdings stellt sich die Frage,
in wieweit eine multilateralen Organisation dazu berechtigt ist, in
die nationalen gesellschaftlichen Angelegenheiten eines souveränen
Staates einzugreifen. Hinzu kommt, dass nicht nur die Durchführung
bisweilen mangelhaft verlief, sondern dass die Strukturanpassung in
den betroffenen Ländern mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen hatte. Für
hochverschuldete Staaten waren der Schritt zur Weltbank und zum IWF
meist die letzten Instanzen, nachdem private Kreditinstitute nicht
mehr bereit waren, als Gläubiger zu fungieren. Die Reformversuche
mittels Strukturanpassungsprogrammen von Weltbank und IWF bargen die
Gefahr einer potentiellen Veränderung der vorhandenen
Machtstrukturen im Anwendungsgebiet in sich. Die Einschränkungen,
die infolge des Konsolidierungsversuches des Staatshaushaltes
auftraten, betrafen nicht nur diejenigen, die ohnehin schon von
Armut und Unterentwicklung betroffen waren, sondern auch diejenigen,
die bis dato in nahezu uneingeschränktem Reichtum und Überfluss
gelebt hatten. Der Widerstand gegen die Implementierung der
Strukturanpassung kam daher nicht nur aus dem Norden, sondern ebenso
von Teilen der gesellschaftlichen Elite einzelner
Entwicklungsländer.
5.3. Dissoziation und Autozentrierte Entwicklung am Beispiel der
Theorie von Dieter Senghaas und Ulrich Menzel
Die anhaltende Diskussion über den Sinn und Erfolg von
Strukturanpassungsprogrammen legte nahe, auch weiterhin nach
alternativen Konzepten zur Überwindung der weltweiten
Entwicklungsprobleme zu suchen. Der von Dieter Senghaas in seinem
Werk "Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik - Plädoyer für
Dissoziation" (1977) empfohlene autozentrierte und zeitweilig
dissoziative Entwicklungsweg sorgte für eine intensive Debatte über
die Notwendigkeit einer auf die eigenen Bedürfnisse beschränkte
Entwicklung und eine zeitweilige Abkoppelung von der
"Internationalen Arbeitsteilung". Grund genug, diesen
Entwicklungsansatz - in einer veränderten Fassung von Dieter
Senghaas und Ulrich Menzel von 1983 - aufzugreifen und dabei zu
klären, inwieweit uns dieser helfen kann, unser eigenes Verständnis
von Entwicklung durch einen Zuwachs an Empathie stärker an den
beiderseitigen Bedürfnissen und Vorstellungen in Nord und Süd zu
orientieren.
Im Mittelpunkt ihrer Theorie steht die Auseinandersetzung mit dem
von ihnen angenommenen Kompetenzgefälle zwischen Industrie- und
Entwicklungsländern. Das Kompetenzgefälle zeige sich darin, so
Menzel und Senghaas, dass ein unterschiedliches Niveau bezüglich der
Qualifikation von Wissenschaft, Technik und Arbeitskräften, des
Verwendungsgrades neuer Technologien, des Produktivitätsgrades der
Volkswirtschaft, des Industriepotentials, der landwirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit, der Verfügbarkeit über hochwertige
Kommunikations- und Verkehrseinrichtungen, der Waffensysteme, der
Innovationsbereitschaft, der Mobilität und Flexibilität etc.
bestehe. Das Kompetenzgefälle entstehe infolge eines substantiellen
Entwicklungsdurchbruchs und eines daraus resultierenden
Entwicklungsvorsprunges einer Gesellschaft gegenüber einer anderen.
In Ländern mit Kompetenzrückständigkeit käme es daher zu einem
Peripherisierungsdruck. In dieser kritischen Phase versuche die
betroffene Regierung, der Entwicklung zur Peripherisierung
entgegenzuwirken. In der Vergangenheit sei das vorrangig durch die
Eingliederung in die "Internationale Arbeitsteilung" versucht
worden, worin Senghaas und Menzel jedoch die ungünstigere Wahl
sahen: "Grundsätzlich sind nämlich zwei Reaktionsweisen denkbar.
Entweder ordnet man sich dem weiter entwickelten Land unter und
akzeptiert die so sich zwangsläufig einstellende Rolle als
Rohstoffproduzent mit den bekannten Abhängigkeitsfolgen und wird
tatsächlich zu einer Peripherie oder man nimmt die Herausforderung
an, versucht dem Peripherisierungsdruck standzuhalten, ihm
entgegenzusteuern und den Entwicklungsvorsprung wettzumachen, indem
man seinerseits alles daran setzt, auf dem gleichen Gebiet oder in
anderen Gebieten einen Entwicklungsdurchbruch zu erzielen" (Senghaas/Menzel
1983: 79).
Die Empfehlung einer weitgehenden Dissoziation vom Weltmarkt und
einer autozentrierten Entwicklung stieß auf umfangreiche Kritik,
insbesondere unter den Modernisierungstheoretikern und
Neoliberalisten. Die binnenwirtschaftliche Ausrichtung unter
Zuhilfenahme von protektionistischen Maßnahmen und staatlicher
Einflussnahme widersprach jeglicher Vorstellungen von einer
weltmarktorientierten, neoliberalen Entwicklungspolitik. Allerdings
verwiesen Senghaas und Menzel eindeutig darauf, dass sich ihr Modell
nicht im Sinne einer langfristigen, vollkommenen Abkoppelung
verstand, sondern als vorübergehendes Mittel zur Protektonierung der
eigenständigen Entwicklung. Anhand von drei welthistorischer
Krisensituationen belegten sie, dass sich einerseits der
Peripherisierungsdruck in der Vergangenheit bereits in
vergleichbarer Form auf heute hochentwickelte Staaten ausgewirkt
hat, andererseits von diesen ebenfalls dissoziative und
autozentrierte Entwicklungswege phasenweise angewandt worden sind.
Bezugnehmend auf die Industrielle Revolution in England (ab 1760),
die Revolutionierung des Transportwesens und der
Konservierungstechniken (ab 1840) sowie die Weltwirtschaftskrise (ab
1929) belegen Senghaas und Menzel, dass bereits in der Vergangenheit
"umfangreiche Maßnahmen zur Gegensteuerung" in den heutigen
Industrieländern entwickelt wurden, um das Kompetenzgefälle zu
minimieren und eine nachholende Entwicklung zu ermöglichen.
Dissoziation und Autozentrismus verstanden die beiden deutschen
Entwicklungspolitologen als Zwischenstufe des Entwicklungsprozesses
und nicht - wie es ihnen Kritiker vorwarfen - als erwünschtes Ziel.
Dieter Senghaas hatte in seinem 1977 erschienen Werk
"Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik" bereits auf die
"Theorie der produktiven Kräfte" des deutschen Ökonom Friedrich List
(1789-1846) Bezug genommen. Diesbezüglich bemerkte Senghaas: "In
seinen entwicklungspolitischen Überlegungen gibt List einer
allseitigen Produktivkraftentfaltung, d.h. der Produktion von
produktiven Kräften, die Priorität vor reiner Tauschwertproduktion,
weil nur eine auf solche Ziele hin orientierte politische und
insbesondere wirtschaftliche Strategie zur Herausbildung
lebensfähiger kohärenter Wirtschaftskreisläufe führen kann, die
ihrerseits die Grundlage für die Erlangung höherer
Entwicklungsniveaus einer nationalen Ökonomie bilden - und damit
auch die Grundlage für einen sinnvollen, nicht von vornherein
chancenlosen Wettbewerb zwischen nationalen Ökonomien" (Senghaas
1977: 80) [61].
Senghaas und Menzel lieferten zu Beginn der 1980er Jahre eine
Typologie "autozentrierter Entwicklung und strategischer Variablen
zur Gegensteuerung", mit Hilfe derer es ihnen gelang, anhand der
bedeutendsten Industrieländer unterschiedliche Formen von
Dissoziation und Assoziation bzw. Binnenmarkt- und
Weltmarktintegration aufzuzeigen [62]:
- Typ 1: "Anfängliche Binnenorientierung, die ihre Dynamik durch
die Ausweitung privater Investitionen und privater Nachfrage
gewinnt" (Beispiele: England, Frankreich, Preußen/Deutschland, USA
als Grenzfall zu Typ 3).
- Typ 2: "Anfängliche und konsequent durchgehaltene
Weltmarktintegration, ohne daß in der kritischen Phase eine
bewußte dissoziative Politik zu beobachten ist" (assoziativer
Typ); (Beispiele: Schweiz, Niederlande).
- Typ 3: "Anfängliche Exportorientierung, in der kritischen
Phase wird dann allerdings eine erfolgreiche Politik der
Importsubstitutions-Industrialisierung betrieben" (assoziativer /
dissoziativer Typ); (Beispiele: Kanada, Australien, Norwegen,
Finnland, USA als Grenzfall zu Typ 1).
- Typ 4: "Anfängliche Binnenorientierung auf der Basis
verstärkter Staatsaktivitäten, die sich nicht nur auf die
Globalsteuerung beschränkten, sondern massiv den Bereich der
Investition und der Nachfrage betrafen" (Beispiele: Japan, Rußland).
- Typ 5: "Extrem dissoziatives Verhalten von Anfang an und
massive Staatsintervention in allen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens" (Beispiele: Polen, Ungarn, Rumänien,
Bulgarien, Albanien, Jugoslawien, VR China, Nordkorea, Kuba) [63]
(Menzel/Senghaas 1983: 83-90).
Es lässt sich feststellen, dass ein den Dependenztheorien nahe
stehender Ansatz nicht nur auf der Theorie eines bedeutenden
Ökonomen wie Friedrich List aufbaute, sondern zugleich strukturelle
Ähnlichkeiten mit einer klassischen Modernisierungstheorie aufweist.
Auch wenn der Aussagegehalt absolut konträr ist, so vereinen sich
die "Typologie autozentrierter Entwicklung" und die "Stages of
economic growth" von Walt W. Rostow darin, dass sie eine
wirtschaftliche Entwicklung in idealtypischer Weise annehmen bzw.
sich auf diese beziehen. Nach Rostow vollzieht sich Entwicklung in
jeder Gesellschaft anhand von idealtypischen Stufen, die sich
wirtschaftshistorisch nachvollziehen lassen. Im Verständnis von
Senghaas und Menzel dienen jene wirtschaftshistorischen Ereignisse
als Unterstreichung, dass sich jede Gesellschaft zeitweise - in
Abhängigkeit der jeweiligen landesspezifischen Strukturen - auf
autozentrierte bzw. dissoziative Weise entwickelt hat oder dies - im
Falle heutiger Entwicklungsländer - sinnvollerweise tun sollte.
(c) Dipl.-Geogr. Johannes Winter,
Weltpolitik.net
[56] Vgl. Lembeck 1996: 208.
[57] Der "Brandt-Bericht" (Bericht der Nord-Süd-Kommission) -
benannt nach dem Vorsitzenden der Kommission, Willy Brandt - wurde
am 12.12.1980 von der "Unabhängigen Kommission für Internationale
Entwicklungsfragen" unter dem Titel "Das Überleben sichern.
Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer"
vorgelegt.
[58] Die im Rahmen des 1974 in Cocoyoc/Mexiko abgehaltenen
Symposiums "Pattern of Resource Use, Environment and Development"
von UNEP/UNCTAD entstandene "Erklärung von Cocoyoc" forderte: "Als
erstes müssen wir überhaupt Ziel und Zweck von Entwicklung neu
definieren. Es kann sich nur darum handeln, den Menschen, nicht die
Dinge zu entwickeln. Menschen haben bestimmte Grundbedürfnisse:
Nahrung, Unterkunft, Kleidung, Gesundheit und Bildung (...). Ein
Wachstumsprozess, der nur der wohlhabendsten Minderheit nutzt und
die Gefälle zwischen den Ländern und innerhalb der Länder noch
vergrößert, ist keine Entwicklung. Es handelt sich vielmehr um
Ausbeutung" (Erklärung von Cocoyoc 1975: 1-9).
[59] Zur Weltbankgruppe (Weltbank) zählen die Internationale Bank
für Wiederaufbau und Entwicklung (International Bank for
Reconstruction and Development; IBRD), die Internationale
Entwicklungsorganisation (International Development Association;
IDA) sowie die Internationale Finanzkorporation (International
Finance Corporation; IFC). Die Weltbank und der Internationalen
Währungsfonds (International Monetary Fonds; IWF/IMF) wurden 1944 in
Bretton Woods (USA) durch ein internationales Abkommen gegründet.
[60] SF = Social Funds.
[61] Senghaas nimmt Bezug auf List, F. (1959): Das nationale System
der politischen Ökonomie (S.160f). Tübingen (Erstausgabe 1841).
[62] Die Ausführungen sind auf die kritische Entwicklungsphase
bezogen, auf jene Phase, in der die entscheidenden Weichenstellungen
bezüglich der weiteren Entwicklung vorgenommen werden müssen
(Menzel/Senghaas 1983: 79).
[63] Zur näheren Erläuterung der Typologie autozentrierter
Entwicklung und strategischen Variablen zur Gegensteuerung
vergleiche Menzel/Senghaas 1983: 77-96.
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