Die Himmelsscheibe von Nebra

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Autor: Dr. Norbert Gasch

Eine vollständige astronomische Interpretation

Abb. A
Die Himmelsscheibe von Nebra

Die inzwischen recht berühmte Himmelsscheibe von Nebra (Abbildung A) ist archäologisch wie astronomisch ein ausgesprochen interessanter Gegenstand. Sie ist bereits an verschiedenen Stellen hinsichtlich ihres archäologischen, kulturhistorischen und astronomischen[1][2][3][4] Wertes bereits intensiv besprochen worden. Deswegen kann sich hier sofort dem eigentlichen Neuen zugewandt werden. Dabei geht es nun zuerst um die beiden eigentümlichen Randbögen, die die Scheibe aufweist. Sie sind offensichtlich nachträglich angebracht worden, da zuvor am Scheibenrand befestigte Sterne entfernt oder versetzt wurden, um Platz zu schaffen. Zwar ist von den Bögen nur noch einer vorhanden, aber die Umrisse des zweiten haben sich gut erhalten. Allgemein hat sich nun der Eindruck ergeben, diese Randbögen könnten astronomisch für eine Winkelangabe stehen, und vornehmlich der Bochumer Astronom Dr. Wolfhard Schlosser[5] war rasch mit der Idee bei der Hand, daß nun die vom Scheibenzentrum aus betrachtet etwa 82 bis 83 Grad weiten Bögen für die Auf- und Untergangsmarken der Sonne zu den Sonnenwenden ständen. Jetzt zeigt sich, daß sich diese Randbögen auch anders interpretieren lassen, und zwar als Mondwenden. Auch die „Sterne“ auf der Scheibe erhalten unter dieser Vorgehensweise plötzlich eine Bedeutung, und obendrein tritt auch noch ein Hinweis auf eine alte Mondwendendarstellung aus der Zeit vor dem Umbau auf, wobei diese auch noch den Vorteil besitzt, daß der Schöpfer der Scheibe freundlicherweise ein mondförmiges Etikett daran zurückgelassen hat.

Mondwenden

Abb. 1
Die Sternenscheibe von Nebra zeigt, betrachtet vom Zentrum der “Sonne” zu den beiden Randbögen hin, auffälligerweise die Winkel von 109 Grad und 66 Grad.
Bild: Dr. Norbert Gasch, Arbeitsgemeinschaft Raumfahrt und Astronomie
Abb. 2
Bild: Dr. Norbert Gasch, Arbeitsgemeinschaft Raumfahrt und Astronomie

Sieht man allerdings etwas genauer hin, so erkennt man sofort, daß die beiden Bögen keineswegs gleich lang sind, infolgedessen auch keine identischen Winkel einschließen. Geht man indessen davon aus, daß die auffällige runde Markierung, allgemein als „Sonne“ verstanden, das Zentrum der Betrachtung darstellt (eine Idee, die z.B. in[6] angestellt wird), wodurch man sich durch die Führung der oberen und unteren radialen Kanten der beiden Bögen auch veranlaßt sehen kann, so ergeben sich zwei Winkel, die 109 und 66 Grad weit sind (Abbildung 1). Winkel dieser Größe kennt man auch aus Stonehenge. Dort markieren sie in einer Größe von 102 und 61 Grad die Abstände der Mondauf- und -untergangspunkte zu den Zeiten der großen und kleinen Mondwenden.[7] Stonehenge liegt auf 51,2 Grad nördlicher Breite; also könnten die auf der Himmelsscheibe enthaltenen Winkel auf einen Ort in etwas nördlicherer Lage weisen.

Der Mond bewegt sich bekanntlich auf einer Bahn um die Erde, die 5,160 Grad gegen die Ekliptik geneigt ist. Gleichzeitig präzidiert die Bahn im ganzen einmal in 18,61 Jahren, so daß, obwohl der Neigungswinkel immer derselbe bleibt, unterschiedliche Neigungen relativ zum irdischen Äquator und damit Himmelsäquator auftreten. Maximal und minimal kann die Neigung heute 28,5° und 18,5° relativ zum Himmelsäquator betragen, womit sich der Weg des Mondes am Himmel deutlich ändert. Es ergeben sich vier Maxima bzw. Minima, wenn sich nun die Mondbahninklination zur Neigung der Ekliptik addiert oder von ihr subtrahiert. Im Zuge der Großen Mondwenden kann der Mond, geeignete Mondphase vorausgesetzt, wenn er in maximaler Deklination (+28,5 Grad) steht, weit nordöstlich auf- und weit nordwestlich untergehen. Steht er aber in niedrigstmöglicher Deklination (-28,5 Grad), geht er tief südöstlich auf und südwestlich unter. Durch die Präzession der Mondbahnebene rücken diese Auf- und Untergangspunkte allerdings in den nächsten 9,6 Jahren näher an den Ost- bzw. Westpunkt heran und erreichen hier zur Zeit der Kleinen Mondwerte deutlich geringere Elongationen. Dann erreicht der Mond nur eine geringere maximale (+18,5 Grad) und minimale (-18,5 Grad) Deklination. Das bedeutet nun nicht, daß der Mond nur an den vier dazu korrespondierenden Stellen auf- oder untergehen kann. Vielmehr wandert der Mond innerhalb eines Jahren, genau wie die Sonne, in seinen Auf- und Untergangspunkten vom südlichen Wendepunkt zum nördlichen und wieder zurück. Nur ist dieser Winkel alle 18,6 Jahre besonders groß und jeweils 9,3 Jahre versetzt dazu besonders klein. Bei der Sonne beobachtet man hingegen jedes Jahr denselben Winkel zwischen Sommer- und Wintersonnenwende. Das Erreichen der Mondwenden ist dabei an den gleichzeitigen Eintritt der Winter- oder Sommersonnenwende gekoppelt, da sich ja die Monddeklination zu der Sonnendeklination addiert. Zu beobachten ist der komplette Zyklus deswegen über die Jahrzehnte, da nicht zu jeder Sonnenwende auch gleich die passende Mondphase herrscht (Abbildung 2). Die Mondphasen sind aus geometrischen Gründen übrigens auch an die Sonnendeklination gekoppelt, was die Sache etwas verkompliziert. Treten die Mondwenden bei Vollmond ein, so steht der Mond der Sonne zwangsläufig gegenüber am Himmel. Bei der Sommer-Sonnenwende bedeutet dies, daß der Vollmond mit sehr niedriger Deklination über den Himmel läuft, weil die Sonne bei höchster Deklination am Himmel steht. Aus diesem Grunde geht der Vollmond in der sommerlichen Großen Mondwende dann weit südlich auf. Für einen schmalen, sichelförmigen Mond gilt das Gegenteil: er geht bei der sommerlichen Großen Mondwende weit nördlich auf, weil er dann eine hohe Deklination ähnlich der Sonne besitzt. Zur Wintersonnenwende geht der Vollmond indessen weit im Norden auf und beschreibt bis zu seinem Untergang im Nordwesten einen hohen, langen Weg über den Himmel. Dafür besitzen jetzt die Mondsicheln niedrige Deklination. Also: der Vollmond läuft zur Zeit der Sommersondenwende flach über den Himmel und geht im Südosten auf und im Südwesten unter; zur Zeit der Wintersonnenwende beschreibt der Vollmond eine steile Bahn und geht im Nordosten auf und im Nordwesten unter.

Mit diesem Wissen ausgestattet läßt sich formal die geographische Breite berechnen, für die die Differenz der Azimutwerte b (man sagt dazu auch Pendelbogen) der Großen bzw. Kleinen Mondwenden eben 109 und 66 Grad ergeben. Es finden sich die 53,15 Grad und 53,90 Grad, das heißt, in etwa die nord- bis mitteldeutsche Nordseeküste. Zu berücksichtigen ist dabei, daß die Neigung der Erdachse, die in den Ausdruck eingeht, um 1700 v. Chr. bei 23,883 Grad lag, also etwas größer war als heute.

Die mathematische Vorgangsweise ist ausführlich im Kasten 1 beschrieben; sie führt im Mittel zu einer geographischen Breite von 53,5 Grad. Dieser Wert ist für die atmosphärische Refraktion korrigiert, die ja dazu führt, daß man Sonne, Mond und Sterne noch am Horizont sieht, wenn sie in Wirklichkeit schon rund ein halbes Grad unter dem Horizont stehen. Dazu kommt beim nahen Mond die Horizontparallaxe, die daraus resultiert, daß der Beobachter den Mond beim Auf- und Untergang von verschiedenen Seiten der Erde aus sieht und sich der Mond am Himmel daher aus perspektivischen Gründen um rund ein Grad verschiebt.

Natürlich ist nicht klar, ob die Betrachtung der Mondscheibe ihrem Zentrum oder ihrem oberen oder unteren Rand galt, was weitere leichte Veränderungen ergeben kann, die aber kaum etwas ausmachen.

Bemerkenswert an dem Zusammenhang ist natürlich:

  1. Die beiden unterschiedlichen Bögen auf der Scheibe korrespondieren auch zu zwei verschiedenen Winkeln und sind nicht einfach nur ungenau.
  2. Der Umstand, daß beide Winkel gemeinsam in etwa dieselbe geographische Breite ergeben, wird kaum ein Zufall sein.

Betrachtet man die Scheibe, so erkennt man, daß die „Sonne“ und der „Mond“ sowie die „Sterne“ offenbar die ursprünglichen Bestandteile waren, denn es wurden Sterne bei der Anbringung der Bögen versetzt.

Sterne

Abb. 3
Das angebliche gebremste Chaos der Sternverteilung[8] auf der Scheibe von Nebra zerfällt eigentlich schon beim ersten Blick in eine simple geometrische Anordnung hoher Symmetrie. Die Lage der Punkte legt ohne weiteres ihren Charakter als Visurmarken für Auf- und Untergangspunkte nahe.
Bild: Dr. Norbert Gasch, Arbeitsgemeinschaft Raumfahrt und Astronomie
Abb. 4
Viele helle Sterne am irdischen Himmel lassen sich auf der Scheibe anhand ihrer Visurmarken im Azimut identifizieren. Angegeben ist hier jeweils der Aufgangsazimut von Nord (links) über Osten (oben) nach Süden (rechts) für die Sterne der oberen Scheibenhälfte; für die Sterne der unteren Hälfte wurde vom Untergangsazimut 180 Grad abgezogen, um die Darstellung zu vereinfachen. Zwei Punkte, die für den Auf- und Untergangspunkt desselben Sterns stehen, erhalten so dieselbe Winkelgröße. Vor allem die Sterne des Orions, aber auch Regulus, Capella und ganz besonders Sirius passen gut in dieser Konzept (siehe Tabelle 1).
Bild: Dr. Norbert Gasch, Arbeitsgemeinschaft Raumfahrt und Astronomie

Unter der bisher gewonnenen Erkenntnis empfiehlt sich die Überprüfung der bisherigen Interpretation der Scheibe. Im Gegensatz zu bestimmten Veröffentlichungen[9], in denen von einem angeblichen „gebremsten Chaos auf der Scheibe“ und „willkürlich angeordneten Sternen“ die Rede ist, kann man ohne weiteres feststellen, daß die Sterne zu einem recht großen Teil symmetrisch liegen (Abbildung 3), und zwar zu der Horizontalen, die sich aus den Punkten links (wurde mit Aufwand versetzt) und rechts (ist indessen unter dem Bogen verschwunden) ergibt. Offenbar ist dieser Zusammenhang bisher völlig übersehen worden.

Es ergibt sich sofort ein Verdacht: Wahrscheinlich sind die Punkte auf der Scheibe keine Sterne, sondern irdische Visurmarken für Auf- und Untergangspunkte in einer Beobachtungsanlage, wobei in diesem Fall der Azimut von links (Norden) über oben nach rechts (Süden) läuft (die Lage der Himmelsscheibe soll jetzt der Übersicht halber beibehalten werden). Die Anordnung auf der Scheibe ist entweder künstlerisch um die anderen Objekte ausgeführt worden, oder aber es handelt sich sogar um den genauen Grundriß einer Beobachtungsstätte mit Visurpfosten und einem Beobachtungsstandort (eben die „Sonne“). Damit ist das ganze also keine Sternkarte im üblichen Sinn. Auch die mitunter deutlich in Reihen auftretenden Visurpunkte geben einen Hinweis auf Serien von Meßpfosten. Der eigentliche informative Sinn liegt aber in den Azimutwerten der Punkte. Damit kann man arbeiten und versuchen, die Punkte auf der Scheibe mit Auf- und Untergangsazimuten von Sternen, bevorzugt den hellsten, in Übereinstimmung zu bringen. Nähere Informationen zur Vorgehensweise enthält Kasten 2. In jedem Fall müssen Präzession, Eigenbewegung und Refraktion berücksichtigt werden. Es folgen dabei zwei weitere Einsichten:

3. Das ganze Arrangement läßt sich in der Tat mit den Auf- und Untergangsazimuten der hellsten Sterne identifizieren (Abbildung 4), insbesondere Capella und Sirius. Sirius ist hier entweder künstlerisch durch einen Kranz Punkte hervorgehoben (etwa: funkelnd, hell), oder es handelt sich profan und technisch um ein Bündel Meßpfosten zu anderen Zwecken. Zwei weit südliche Aufgangspunkte können γ Crucis (170,7 Grad) und womöglich γ Eridani oder α Arae (168,3 Grad) zugeordnet werden. Dabei ist g Crucis ein recht heller Stern von 1,59 m, dessen Sichtbarkeit Ort und Zeit der Scheibenherstellung durch Präzession und geographische Breite einschränkt. Die beiden anderen Sterne sind allerdings ziemlich schwach. Der Stern γ Eridani (2,95 m) konnte jeweils um die Wintersonnenwende um Mitternacht kurz am südlichen Horizont beobachtet werden. Der Stern α Arae (2,84 m) war hingegen im Sommer sichtbar. Seine Verwendung klingt wegen der dann herrschenden sommerlichen Himmelsaufhellung allerdings weniger glaubhaft. Andererseits ist der Stern durch eine Linie der höher am Himmel stehenden Sterne ε und η Scorpii leicht aufzufinden.

Ohne α Arae und γ Eridani ergibt sich ein deutliches Minimum (nur gut 0,9 Grad durchschnittlicher Fehler pro Stern!) für 2400 v. Chr. und 56 Grad nördliche Breite. (Tabelle 1 und Abbildung 5).

Mit α Arae ergibt sich derselbe Wert mit einem Fehler von 1,0 Grad pro Stern (Tabelle 1 und Abbildung 6). Mit γ Eridani folgt ein Minimum von 1,45 Grad für 2475 v. Chr. und 56,0 Grad Nord unter einem Fehler von 1,4 Grad pro Stern.

Damit ist die Lösung mit α Arae eher wahrscheinlich. Wem nun α Arae zu unwahrscheinlich vorkommt (obwohl: wir wissen wenig über die astronomische Praxis), der sei daran erinnert: es geht auch ohne α Arae; die Lösung wird ohne den Stern nicht schlechter. Bemerkenswert ist, daß in Gestalt der Sterne η und ε Scorpii eine gute Visierlinie auf α Arae gibt.

Bemerkenswert ist noch, daß der Azimutwert bei 86,4 besser auf den Stern Alcyone in den Plejaden paßt als auf den wesentlichen helleren Procyon. Die Visur bei 120,4 Grad fällt praktisch exakt auf den Stern 42 Orionis, der im Zentrum des Nebels M43 liegt. M43 stellt das nördliche Ende des Großen Orion-Nebels dar. Der Stern ϑ1 Orionis im Mittelpunkt von M42 liegt hingegen bei 123,1 Grad Azimut und scheidet als Lösung aus. Bei der Ermittlung des Minima wurde der Nebel wegen der Mehrdeutigkeit seiner Sterne nicht berücksichtigt.

4. Schränkt man ein, daß die Sichtbarkeit der Sterne am Horizont (also Höhe 0 Grad) durch die Extinktion herabgesetzt sein kann[10] und rechnet statt dessen mit einer wahren Höhe von einem Grad, so verschiebt sich die beste Lösung unter größerem Fehler mit oder ohne a Arae auf 2375 v. Chr. und 55,0 Grad Nord. Ab zwei Grad wahre Höhe erhält man nur noch schlechte Lösungen. Offenbar sind die Werte auf der Scheibe auf null Grad wahre Höhe, also echte Horizontsicht, ausgelegt; sie können auch entsprechend vom Scheibenhersteller korrigiert worden sein. Für andere Zeiten und Breiten divergieren die Fehler auch bei wahrer Höhe Null rasch zu großen Werten, so daß es keine weiteren Lösungen gibt, insbesondere keine für die Zeit um 1700 v. Chr. und nördliche Breiten von 51 bis 53 Grad.

Die Sache ist also ziemlich eindeutig. Die Scheibe stammt ursprünglich von woanders her.

In allen Fällen deuten die Werte darauf hin, daß die Scheibe einen Sternhimmel zeigt, wie er vor rund 4.400 Jahren in Schottland, Dänemark, Schweden oder dem Baltikum gesehen werden konnte.

Die Plejaden, ein archäoastronomisch geradezu vorausgesetztes Element, treten auf der Scheibe als einzelner Azimutwert in Erscheinung; keinerlei Hinweis ergibt sich allerdings für die Sonne. Das muß aber kein Widerspruch sein, wenn diese Himmelsscheibe nur Zusammenhänge der nächtlichen Beobachtung darstellen sollte.

Nebenher ergibt sich auch ein Grund für die Sternverteilung an sich.

5. Die Symmetrie (Abbildung 3) erklärt sich simpel aus der Beobachtung von Auf- und Untergang des jeweils gleichen Sterns (das kennt man auch von den Ägyptern zur Richtungsfindung), etwa zur Zeit- oder Ortsmessung. Die Gestirnsauf- und Untergänge finden dabei ja immer zur selben Sternzeit statt. Das Interesse könnte also in der Feststellung der Nachstunden gelegen haben oder im Vergleich der Sternauf- und Untergänge mit denen der Sonne, die vielleicht an anderer Stelle beobachtet wurde, um die Bewegung der Sonne durch den Tierkreis zu verfolgen.

Die spiegelbildliche Interpretation oder die vom Scheibenzentrum aus liefern keine sinnvollen Azimute, insbesondere nicht für die hellen Sterne (es paßt also keineswegs „zufällig“ dauernd „alles“!). Aber dazu mehr weiter unten!

Wer nun auffällige helle Sterne vermißt: Die Visurmarken für Aldebaran und Antares liegen für die gefundenen Orte und Zeiten ziemlich nah bei den der Beteigeuze zugesprochenen Punkte, Castor bewegte sich am damaligen Himmel ähnlich der Capella. Wega, Großer Wagen, Arkturus und Deneb waren zirkumpolar. Für sie gibt es keine Auf- und Untergangspunkte. Das Fehlen all dieser Sterne erzeugt also keinen Widerspruch.

Auf Visurbildung zwischen einzelnen „Sternen“ auf der Scheibe wurde hier verzichtet; davon ergeben sich unüberschaubar viele, die alle irgendwie zufällig auf irgend etwas hinweisen, ohne daß der Zusammenhang zu belegen wäre.

Und noch mal der Mond

Abb. 7
Der eigenartige Winkel zwischen den Sichelspitzen des Mondes beträgt 59 Grad und deutet auf die südliche Große Mondwende hin, die für 56 Grad Nord bei Azimut 151 Grad lag, und zwar für die ursprüngliche Version der Scheibe. Die später angebrachten Bögen geben einen anderen Wert kund: 53,5 Grad.
Bild: Dr. Norbert Gasch, Arbeitsgemeinschaft Raumfahrt und Astronomie

Zusätzlich findet sich für die angegebene Epoche und Breite womöglich auch noch die südliche Große Mondwende (Abbildung 7). Dieses Visurenpaar wird durch die Sichelspitzen des Mondes und der Sonnenmitte aufgespannt und liefert einen Winkel von 59 Grad. Die Hälfte dieses Winkels (29,5 Grad) von180 ° subtrahiert gibt mit 150,5 Grad gut den Azimutwert der südlichen großen Mondwende für 56,0 Grad Nord wieder: hier beträgt er rechnerisch 151 Grad. Dies ist konsistent zu der Breite, die sich aus der Sternuntersuchung ergibt! Im übrigen hat der Schöpfer der Scheibe ein mondförmiges Etikett an der Visur angebracht. Das sollte auch Berufszweifler überzeugen.

Auf der Scheibe hat man also eine alte Sammlung von Azimutwerten für die Auf- und Untergangspunkte heller und wichtiger Sterne am Horizont vor sich und Angaben für die südliche Große Mondwende. Später wurde großer Wert darauf gelegt, gerade diese Angabe auf die aktuellen Werte zu korrigieren und um die Werte für die kleine Mondwende zu ergänzen, weshalb man die beiden Goldbögen anbrachte.

Selbstredend stellt die Scheibe kein Meßgerät her. Bei der Anreißung der Winkel, der technischen Ausführung (die Tauschierung führt ja auch zur Deformation des Materials) sowie durch nachträgliche Beschädigung sind Darstellungsfehler unvermeidlich; weitere Fehler treten bei der Messung der Winkel heute auf. Man sollte deswegen keine zu hohe Präzision erwarten. Bei den Sternen erscheinen ein bis zwei Grad Positionsfehler angesichts der verbeulten und verzogenen Scheibe möglich.

Zufall oder Absicht?

Natürlich kann jetzt zu jedem einzelnen Stern oder Winkelbogen behauptet werden: Alles reiner Zufall! Ja, zu den einzelnen schon. Kaum aber zu der Summe all dieser Entsprechungen.

Man steht hier vor dem gleichen Problem wie ein Kriminalist, der ein Verbrechen aufklären soll, wobei der Hauptverdächtige aber nicht spricht. Man muß also Indizien bemühen.

Hier ist es so ähnlich: es ergänzen sich drei Sachverhalte: die alte südliche große Mondwende, der Sternhimmel und das modernere Mondwendenpaar, wobei die Betrachtung stets von der „Sonne“ ausgeht.

Was den Sternhimmel angeht, so kann man sich der Beurteilung der möglichen Zufälligkeit nähern, in dem zunächst einmal festhält, daß das Auftreten der hellsten Sterne als Azimutwerte auf der Scheibe von großer Bedeutung ist. Helle Sterne sind besser zu beobachten, gleichzeitig aber auch seltener am Himmel. Diese Einschränkung macht logisch Sinn. Wie zufällig sind also Sternscheiben, die die Azimutwerte für die hellsten sichtbaren Sterne zeigen?

Statistisch kann man so vorgehen:

Setzt man bei den Azimutwerten eine allgemeine Toleranz von zwei Grad voraus, so kann man sich nebra-ähnliche Azimutverteilungen generieren, in dem man eine Zufallszahl zwischen 0 und 1 erzeugt und mit 90 multipliziert. Man simuliert so die Verteilung auf einer Seite der Scheibe (die auf der anderen wäre spiegelbildlich, weil die Auf- und Untergangsazimute ja zusammenhängen), wobei sich die Zahl 90 daraus ergibt, daß 90 jeweils zwei Grad weite Sektoren auf einer halben Kreisfläche Platz haben.

Die Wahrscheinlichkeit, mit einem zufällig generierten Azimutwert irgendeinen Azimut auf der halben Scheibe zu treffen, ist natürlich eins, da es keine Lücken gibt. Die Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Wert zu treffen, ist:


P = 1/90 oder 0,0111


Zieht man die 130 hellsten Sterne bis zur 3. Größenklasse am Himmel heran, so stellt man fest, daß diese Aufgangsazimute besitzen, die die halbe Scheibe ebenfalls lückenlos füllen. Man wird also mit jedem Zufallswurf den Azimutwert für irgendeinen Stern treffen.

Ein bestimmter Stern wie Sirius wird also in 1,1 Prozent aller simulierten Nebra-Scheiben zufällig getroffen. Das ist keineswegs selten.

Bei rund 130 helleren Sternen gibt es also immer irgendwelche Treffer, wenn man 15 Sternazimute, wie man sie ja auch auf der Scheibe problemlos findet, durch Zufallszahlen simuliert. Entsprechungen nur für schwächere Sterne sind damit vollkommen uninteressant: sie treten immer auf.

Wie sieht es aber aus, wenn zwei bestimmte helle Sterne auf einer simulierten Scheibe vorkommen sollen? Das Problem ist bekannt und läßt sich anhand von Variationen ohne Wiederholungen aus der Kombinatorik ähnlich lösen wie die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Lottozahlen gezogen werden. Das Prinzip basiert im wesentlichen auf der Regel, daß sich Wahrscheinlichkeiten, die eine „oder“-Verknüpfung aufweisen, multipliziert werden. Außerdem kommen die hellen Sterne, ähnlich wie Lottozahlen, jeweils auch nur einmal pro Wurf vor.

Hierzu dient der Ansatz für die Möglichkeiten Q:


Q = k!/[r!(k-r)!]


Die Variable k ist hier 90, r steht für die Anzahl der Sterne, die simultan in dem Zufallswurf vorkommen müssen, das Ausrufezeichen bezeichnet die Fakultätsfunktion. Wie man weiß, ist beispielsweise 4! = 1·2·3·4 = 24. Setzt man hier k=49 und r=6 ein, erhält man die bekannten 13,9 Millionen Möglichkeiten. Die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Variation ist der Kehrwert der Möglichkeiten.


P = [r!(k-r)!]/k!


Es folgt daraus


P1 = [1!(90-1)!]/90!=1,11·10-2


für einen bestimmten Stern, etwa Sirius (das hatten wir oben schon, nur anders ausgedrückt).


P2 = [2!(90-2)!]/90!= 2,50·10-4


für zwei bestimmte Sterne, etwa Sirius und Capella.


P3 = [3!(90-3)!]/90!= 8,51·10-6


für drei bestimmte Sterne, hier etwa Sirius, Capella und Rigel.

Wie man sieht, sind simulierte Scheiben, die Sirius, Capella und Rigel als Azimutwert enthalten, schon nicht mehr so häufig.

Als nächstes kommen Beteigeuze, Altair und Spica. Die sind auch vertreten. Antares und Aldebaran liegen unweit der Beteigeuze im Azimut. Es könnte sein, daß aus Platzgründen nicht alle Visuren dargestellt sind, und dieser Umstand wird hier so gewertet, daß die Wahrscheinlichkeit als Summe, nicht als Produkt, betrachtet wird, weil die logische Verknüpfung „und“ vorliegt: für Aldebaran und Antares und Beteigeuze ergeben sich im ungünstigsten Fall (also: möglichst große Wahrscheinlichkeit) zusammen 3/90, also 1/30.

Das macht also:


P4 = [3!(90-3)!]/90!·1/30= 2,83·10-7


Setzt man drei Grad Toleranz an, so folgt:


P4 = [3!(60-3)!]/60!·1/20= 1,46·10-6


Mit fünf Grad Toleranz bewegt man sich immer noch bei:


P4 = [3!(60-3)!]/60!·1/20= 1,17·10-5


Mit anderen Worten: simulierte Scheiben, die auffällig viele der hellsten sichtbaren Sterne zeigen, sind ziemlich selten, auch wenn einige der hellsten Sterne mehrdeutig sind und diese Mehrdeutigkeit zu ungunsten der hier aufgestellten Hypothese aufgefaßt wird. Infolgedessen ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, daß die auf der Scheibe aufgefundenen Azimutwerte zufällig sind. Es handelt sich eher um eine absichtliche Darstellung.

Grundsätzlich ist anzumerken, daß statistische Betrachtungen (auch diese) keinen Beweis für eine physischen Zusammenhang zwischen korrelierten Daten (hier: die Punkte auf der Scheibe und die Sternen am Himmel) liefern. Man kann sie aber im Kontext als Indiz betrachten: Wenn auf der Sternenscheibe der Mond auftritt, dann können die kleinen, runden Punkte durchaus als Sterne interpretiert werden. Hier ergibt diese Betrachtung zusammen mit der der Mondwenden ein stimmiges Bild.

Anmerkungen

Die Untergangs-Visurmarken des Orion und des Sirius sind dabei außerdem von diesem eigenartigen Schiffchen eingefaßt, was zusätzlichen Indiziencharakter erlangen könnte. Traten diese Sterne eine Reise über das Wasser an? Mit anderen Worten: lag im Westen das Meer?

Der Umstand, daß die beiden jüngeren Goldbögen praktisch im rechten Winkel zu der älteren Sichtweise angebracht sind, erklärt sich technisch aus der Präsenz eben dieses Schiffes am unteren Scheibenrand. Die Bögen sollten wohl unter möglichstem Erhalt der bisherigen Substanz zugefügt werden, nachdem die Scheibe nach Germanien kam, von wo aus die alten Visurmarken keinen Sinn mehr ergeben.

Letztendlich bildet die Himmelsscheibe also durchaus Sterne ab, nur anders, als wir es heute gewohnt sind.

Und wozu kann die Scheibe gedient haben?

Sie könnte einen allegorischen Schmuck darstellen, etwa wie der Sonnenwagen von Trundholm (liegt übrigens bei 56 Grad Nord) oder die Goldhörner von Gallehus, die beide ebenfalls astronomisch motiviert erscheinen (wenn auch viel später entstanden), aber keine vergleichbare Fülle von Informationen hergeben. Für ein Schmuckstück erscheint die Scheibe aber andererseits geradezu profan frei von jeder Ornamentik, sieht man von dem Schiffssymbol einmal ab. Sie könnte also pragmatischen Zwecken gedient haben. Einer wäre es, astronomische Grunddaten zur Mondwende und des Sternazimuten mit auf Reisen zu nehmen. Immerhin ist die Scheibe klein genug, um noch recht bequem (und unauffällig) getragen werden zu können, andererseits ist sie groß genug, um die nötigen Winkel in akzeptabler Genauigkeit festzuhalten. Vielleicht ist die Scheibe eine astronomische Botschaft und diente dazu, anderen Beobachtungsstandorten die Sternazimute und Mondwendenlagen mitzuteilen. Da es sicherlich einen Informationsaustausch entlang von Handelsrouten gab, wird man sich vermutlich gewundert haben, daß sich die Azimutwerte der Sterne sich mit der geographischen Breite aber nicht der Länge ändern. Für jemanden, der an eine flache Erde glaubt, die der Himmel umkreis, ist das ein echtes Problem.

Nicht zuletzt suggeriert die Fülle möglicher astronomischer Inhalte auch in einigen Fällen ein gewisses Mißtrauen. Kann es sein, daß die Scheibe eine rezente Fälschung darstellt? Sie muß nicht auf die Grabräuber selbst zurückzuführen sein, die sie 1999 fanden, sondern könnte schon Jahr-zehnte im Boden gelegen haben. Ein Auslöser zu einer sogar mit großem Aufwand angefertigten Fälschung könnten die Bemühungen des SS-Ahnenerbes gewesen sein, in dessen Umgebung ja fanatisch nach Funden gesucht wurde, die die Größe der Germanen glorifizieren sollten. Ist die Scheibe also eine Fälschung auf der Basis astronomischer und materialwissenschaftlicher Daten aus den 40er Jahren? Wurde irgendein Schwindel installiert und später nach Kriegsende vergessen?

Vielleicht hört man ja noch davon.

Es soll hier nicht behauptet, daß diese astronomische Interpretation der Scheibe zwangsläufig die richtige ist, aber sie erscheint doch im Sinne Ockhams einfach: sie enthält nur Elemente, die der damalige Beobachter auch sehen konnte.

Quellennachweise

  1. J. Bergmann, „Die Himmelsscheibe von Nebra“, Parsec 15 (2004), Nr. 2, S. 6-12.
  2. H. Meller, „Die Himmelsscheibe von Nebra - ein frühbronzezeitlicher Fund von außergewöhnlicher Bedeutung“, Archäologie in Sachsen-Anhalt, 1/2002, S. 7-20.
  3. H. Meller, „Die Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 28-33.
  4. W. Schlosser, „Astronomische Deutung der Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 34-40.
  5. W. Schlosser, „Astronomische Deutung der Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 34-40.
  6. A. Wirsching, „Zur Vorstellung vom Kosmos in der Bronzezeit“, Der Vemessungsingenieur, 2004 Nr. 5, S. 354-357 und A. Wirsching, „Himmelsscheibe von Nebra“, Der Vermessungsingenieur, 2005 Nr. 1, S. 28.
  7. E.C. Krupp, „Astronomen, Priester, Pyramiden“, C.H. Beck Verlag, München, 1980.
  8. W. Schlosser, „Astronomische Deutung der Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 34-40.
  9. W. Schlosser, „Astronomische Deutung der Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 34-40.
  10. Verschiedene persönliche Mitteilungen von Herrn Dr. Burkard Steinrücken, Planetarium Recklinghausen ab dem 29. April 2005.