Die Himmelsscheibe von Nebra

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Eine vollständige astronomische Interpretation

Abb. A
Die Himmelsscheibe von Nebra

Die inzwischen recht berühmte Himmelsscheibe von Nebra (Abbildung A) ist archäologisch wie astronomisch ein ausgesprochen interessanter Gegenstand. Sie ist bereits an verschiedenen Stellen hinsichtlich ihres archäologischen, kulturhistorischen und astronomischen[1][2][3][4] Wertes bereits intensiv besprochen worden. Deswegen kann sich hier sofort dem eigentlichen Neuen zugewandt werden. Dabei geht es nun zuerst um die beiden eigentümlichen Randbögen, die die Scheibe aufweist. Sie sind offensichtlich nachträglich angebracht worden, da zuvor am Scheibenrand befestigte Sterne entfernt oder versetzt wurden, um Platz zu schaffen. Zwar ist von den Bögen nur noch einer vorhanden, aber die Umrisse des zweiten haben sich gut erhalten. Allgemein hat sich nun der Eindruck ergeben, diese Randbögen könnten astronomisch für eine Winkelangabe stehen, und vornehmlich der Bochumer Astronom Dr. Wolfhard Schlosser[5] war rasch mit der Idee bei der Hand, daß nun die vom Scheibenzentrum aus betrachtet etwa 82 bis 83 Grad weiten Bögen für die Auf- und Untergangsmarken der Sonne zu den Sonnenwenden ständen. Jetzt zeigt sich, daß sich diese Randbögen auch anders interpretieren lassen, und zwar als Mondwenden. Auch die „Sterne“ auf der Scheibe erhalten unter dieser Vorgehensweise plötzlich eine Bedeutung, und obendrein tritt auch noch ein Hinweis auf eine alte Mondwendendarstellung aus der Zeit vor dem Umbau auf, wobei diese auch noch den Vorteil besitzt, daß der Schöpfer der Scheibe freundlicherweise ein mondförmiges Etikett daran zurückgelassen hat.

Mondwenden

Abb. 1
Die Sternenscheibe von Nebra zeigt, betrachtet vom Zentrum der “Sonne” zu den beiden Randbögen hin, auffälligerweise die Winkel von 109 Grad und 66 Grad.
Bild: Dr. Norbert Gasch, Arbeitsgemeinschaft Raumfahrt und Astronomie
Abb. 2
Bild: Dr. Norbert Gasch, Arbeitsgemeinschaft Raumfahrt und Astronomie

Sieht man allerdings etwas genauer hin, so erkennt man sofort, daß die beiden Bögen keineswegs gleich lang sind, infolgedessen auch keine identischen Winkel einschließen. Geht man indessen davon aus, daß die auffällige runde Markierung, allgemein als „Sonne“ verstanden, das Zentrum der Betrachtung darstellt (eine Idee, die z.B. in[6] angestellt wird), wodurch man sich durch die Führung der oberen und unteren radialen Kanten der beiden Bögen auch veranlaßt sehen kann, so ergeben sich zwei Winkel, die 109 und 66 Grad weit sind (Abbildung 1). Winkel dieser Größe kennt man auch aus Stonehenge. Dort markieren sie in einer Größe von 102 und 61 Grad die Abstände der Mondauf- und -untergangspunkte zu den Zeiten der großen und kleinen Mondwenden.[7] Stonehenge liegt auf 51,2 Grad nördlicher Breite; also könnten die auf der Himmelsscheibe enthaltenen Winkel auf einen Ort in etwas nördlicherer Lage weisen.

Der Mond bewegt sich bekanntlich auf einer Bahn um die Erde, die 5,160 Grad gegen die Ekliptik geneigt ist. Gleichzeitig präzidiert die Bahn im ganzen einmal in 18,61 Jahren, so daß, obwohl der Neigungswinkel immer derselbe bleibt, unterschiedliche Neigungen relativ zum irdischen Äquator und damit Himmelsäquator auftreten. Maximal und minimal kann die Neigung heute 28,5° und 18,5° relativ zum Himmelsäquator betragen, womit sich der Weg des Mondes am Himmel deutlich ändert. Es ergeben sich vier Maxima bzw. Minima, wenn sich nun die Mondbahninklination zur Neigung der Ekliptik addiert oder von ihr subtrahiert. Im Zuge der Großen Mondwenden kann der Mond, geeignete Mondphase vorausgesetzt, wenn er in maximaler Deklination (+28,5 Grad) steht, weit nordöstlich auf- und weit nordwestlich untergehen. Steht er aber in niedrigstmöglicher Deklination (-28,5 Grad), geht er tief südöstlich auf und südwestlich unter. Durch die Präzession der Mondbahnebene rücken diese Auf- und Untergangspunkte allerdings in den nächsten 9,6 Jahren näher an den Ost- bzw. Westpunkt heran und erreichen hier zur Zeit der Kleinen Mondwerte deutlich geringere Elongationen. Dann erreicht der Mond nur eine geringere maximale (+18,5 Grad) und minimale (-18,5 Grad) Deklination. Das bedeutet nun nicht, daß der Mond nur an den vier dazu korrespondierenden Stellen auf- oder untergehen kann. Vielmehr wandert der Mond innerhalb eines Jahren, genau wie die Sonne, in seinen Auf- und Untergangspunkten vom südlichen Wendepunkt zum nördlichen und wieder zurück. Nur ist dieser Winkel alle 18,6 Jahre besonders groß und jeweils 9,3 Jahre versetzt dazu besonders klein. Bei der Sonne beobachtet man hingegen jedes Jahr denselben Winkel zwischen Sommer- und Wintersonnenwende. Das Erreichen der Mondwenden ist dabei an den gleichzeitigen Eintritt der Winter- oder Sommersonnenwende gekoppelt, da sich ja die Monddeklination zu der Sonnendeklination addiert. Zu beobachten ist der komplette Zyklus deswegen über die Jahrzehnte, da nicht zu jeder Sonnenwende auch gleich die passende Mondphase herrscht (Abbildung 2). Die Mondphasen sind aus geometrischen Gründen übrigens auch an die Sonnendeklination gekoppelt, was die Sache etwas verkompliziert. Treten die Mondwenden bei Vollmond ein, so steht der Mond der Sonne zwangsläufig gegenüber am Himmel. Bei der Sommer-Sonnenwende bedeutet dies, daß der Vollmond mit sehr niedriger Deklination über den Himmel läuft, weil die Sonne bei höchster Deklination am Himmel steht. Aus diesem Grunde geht der Vollmond in der sommerlichen Großen Mondwende dann weit südlich auf. Für einen schmalen, sichelförmigen Mond gilt das Gegenteil: er geht bei der sommerlichen Großen Mondwende weit nördlich auf, weil er dann eine hohe Deklination ähnlich der Sonne besitzt. Zur Wintersonnenwende geht der Vollmond indessen weit im Norden auf und beschreibt bis zu seinem Untergang im Nordwesten einen hohen, langen Weg über den Himmel. Dafür besitzen jetzt die Mondsicheln niedrige Deklination. Also: der Vollmond läuft zur Zeit der Sommersondenwende flach über den Himmel und geht im Südosten auf und im Südwesten unter; zur Zeit der Wintersonnenwende beschreibt der Vollmond eine steile Bahn und geht im Nordosten auf und im Nordwesten unter.

Mit diesem Wissen ausgestattet läßt sich formal die geographische Breite berechnen, für die die Differenz der Azimutwerte b (man sagt dazu auch Pendelbogen) der Großen bzw. Kleinen Mondwenden eben 109 und 66 Grad ergeben. Es finden sich die 53,15 Grad und 53,90 Grad, das heißt, in etwa die nord- bis mitteldeutsche Nordseeküste. Zu berücksichtigen ist dabei, daß die Neigung der Erdachse, die in den Ausdruck eingeht, um 1700 v. Chr. bei 23,883 Grad lag, also etwas größer war als heute.

Die mathematische Vorgangsweise ist ausführlich im Kasten 1 beschrieben; sie führt im Mittel zu einer geographischen Breite von 53,5 Grad. Dieser Wert ist für die atmosphärische Refraktion korrigiert, die ja dazu führt, daß man Sonne, Mond und Sterne noch am Horizont sieht, wenn sie in Wirklichkeit schon rund ein halbes Grad unter dem Horizont stehen. Dazu kommt beim nahen Mond die Horizontparallaxe, die daraus resultiert, daß der Beobachter den Mond beim Auf- und Untergang von verschiedenen Seiten der Erde aus sieht und sich der Mond am Himmel daher aus perspektivischen Gründen um rund ein Grad verschiebt.

Natürlich ist nicht klar, ob die Betrachtung der Mondscheibe ihrem Zentrum oder ihrem oberen oder unteren Rand galt, was weitere leichte Veränderungen ergeben kann, die aber kaum etwas ausmachen.

Bemerkenswert an dem Zusammenhang ist natürlich:

  1. Die beiden unterschiedlichen Bögen auf der Scheibe korrespondieren auch zu zwei verschiedenen Winkeln und sind nicht einfach nur ungenau.
  2. Der Umstand, daß beide Winkel gemeinsam in etwa dieselbe geographische Breite ergeben, wird kaum ein Zufall sein.

Betrachtet man die Scheibe, so erkennt man, daß die „Sonne“ und der „Mond“ sowie die „Sterne“ offenbar die ursprünglichen Bestandteile waren, denn es wurden Sterne bei der Anbringung der Bögen versetzt.

Sterne

Unter der bisher gewonnenen Erkenntnis empfiehlt sich die Überprüfung der bisherigen Interpretation der Scheibe. Im Gegensatz zu bestimmten Veröffentlichungen[8], in denen von einem angeblichen „gebremsten Chaos auf der Scheibe“ und „willkürlich angeordneten Sternen“ die Rede ist, kann man ohne weiteres feststellen, daß die Sterne zu einem recht großen Teil symmetrisch liegen (Abbildung 3), und zwar zu der Horizontalen, die sich aus den Punkten links (wurde mit Aufwand versetzt) und rechts (ist indessen unter dem Bogen verschwunden) ergibt. Offenbar ist dieser Zusammenhang bisher völlig übersehen worden.

Es ergibt sich sofort ein Verdacht: Wahrscheinlich sind die Punkte auf der Scheibe keine Sterne, sondern irdische Visurmarken für Auf- und Untergangspunkte in einer Beobachtungsanlage, wobei in diesem Fall der Azimut von links (Norden) über oben nach rechts (Süden) läuft (die Lage der Himmelsscheibe soll jetzt der Übersicht halber beibehalten werden). Die Anordnung auf der Scheibe ist entweder künstlerisch um die anderen Objekte ausgeführt worden, oder aber es handelt sich sogar um den genauen Grundriß einer Beobachtungsstätte mit Visurpfosten und einem Beobachtungsstandort (eben die „Sonne“). Damit ist das ganze also keine Sternkarte im üblichen Sinn. Auch die mitunter deutlich in Reihen auftretenden Visurpunkte geben einen Hinweis auf Serien von Meßpfosten. Der eigentliche informative Sinn liegt aber in den Azimutwerten der Punkte. Damit kann man arbeiten und versuchen, die Punkte auf der Scheibe mit Auf- und Untergangsazimuten von Sternen, bevorzugt den hellsten, in Übereinstimmung zu bringen. Nähere Informationen zur Vorgehensweise enthält Kasten 2. In jedem Fall müssen Präzession, Eigenbewegung und Refraktion berücksichtigt werden. Es folgen dabei zwei weitere Einsichten:

Quellennachweise

  1. J. Bergmann, „Die Himmelsscheibe von Nebra“, Parsec 15 (2004), Nr. 2, S. 6-12.
  2. H. Meller, „Die Himmelsscheibe von Nebra - ein frühbronzezeitlicher Fund von außergewöhnlicher Bedeutung“, Archäologie in Sachsen-Anhalt, 1/2002, S. 7-20.
  3. H. Meller, „Die Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 28-33.
  4. W. Schlosser, „Astronomische Deutung der Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 34-40.
  5. W. Schlosser, „Astronomische Deutung der Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 34-40.
  6. A. Wirsching, „Zur Vorstellung vom Kosmos in der Bronzezeit“, Der Vemessungsingenieur, 2004 Nr. 5, S. 354-357 und A. Wirsching, „Himmelsscheibe von Nebra“, Der Vermessungsingenieur, 2005 Nr. 1, S. 28.
  7. E.C. Krupp, „Astronomen, Priester, Pyramiden“, C.H. Beck Verlag, München, 1980.
  8. W. Schlosser, „Astronomische Deutung der Himmelsscheibe von Nebra“, Sterne und Weltraum 40 (2003), Nr. 12, S. 34-40.