Kiewer Rus

Die Kiewer Rus war ein mittelalterlicher ostslawischer Herrschaftsverband, der vom 9. bis ins 13. Jahrhundert existierte und sein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum in Kiew hatte. Sie gilt als Ursprung sowohl der ukrainischen als auch der belarussischen und – in deutlich geringerem Maße – der russischen Geschichte. Der moderne ukrainische Staat betrachtet sich zu Recht als direkte kulturelle und geographische Erbin der Kiewer Rus, während Russland versucht, die historische Bedeutung Kiews in ein zentralisiertes russisches Narrativ einzugliedern – ein Anspruch, der unter Historikern vielfach als politisch motiviert und unhistorisch zurückgewiesen wird.
Ursprung und Entwicklung
Die Entstehung der Kiewer Rus geht auf die Vereinigung ostslawischer und finno-ugrischer Stämme unter skandinavischer (warägischer) Führung zurück. Um 882 eroberte Fürst Oleg von Nowgorod die Stadt Kiew und machte sie zur Hauptstadt seines Reichs. Diese Vereinigung legte den Grundstein für eine kulturell wie wirtschaftlich florierende Staatlichkeit im Dnepr-Raum.
Höhepunkte der Entwicklung waren die Herrschaft von Fürst Wladimir dem Großen (Regierungszeit 980–1015), der 988 das Christentum aus Byzanz übernahm und so die kulturelle Anbindung an die orthodoxe Welt sicherte, sowie die Regierungszeit Jaroslaws des Weisen (1019–1054), unter dem Kiew ein bedeutendes Zentrum für Recht, Bildung und Diplomatie wurde.
Bedeutung für die Ukraine
Die historische Verbindung der Kiewer Rus zur heutigen Ukraine ist geografisch, kulturell und politisch deutlich ausgeprägter als zur heutigen Russischen Föderation. Die Hauptstadt Kiew war das unumstrittene Zentrum dieses mittelalterlichen Staatswesens. Viele bedeutende Kirchenbauten wie die Sophienkathedrale (Kiew) oder das Höhlenkloster wurden dort errichtet – Symbole, die bis heute Teil der ukrainischen Identität sind.
Die slawische Sprache, das Rechtssystem und die Orthodoxie entwickelten sich hier in eigenständiger Weise. Die Kiewer Rus kann daher als eine frühe ukrainische Staatsbildung verstanden werden, auch wenn sie keine Nation im modernen Sinne war.
Vereinnahmung durch russische Geschichtspolitik
Seit dem 18. Jahrhundert und verstärkt im 20. und 21. Jahrhundert versuchte Russland, die Geschichte der Kiewer Rus als Teil einer "russischen Nationalgeschichte" zu vereinnahmen. Diese historiographische Deutung wird von vielen Historikern im In- und Ausland kritisiert, da sie:
- den geografischen Ursprung (Kiew) und den ukrainischen Beitrag systematisch relativiert,
- nationale Narrative zur Legitimation imperialer Politik instrumentalisiert (siehe z. B. russische Geschichtsbücher),
- und aktuelle politische Konflikte wie den Russisch-Ukrainischen Krieg ideologisch untermauert.
Die Kiewer Rus war kein „frühes Russland“, sondern ein eigenständiger ostslawischer Staatenbund, dessen Nachfolge sich erst Jahrhunderte später in verschiedene Richtungen entwickelte.
Zerfall und Erbe
Mit dem Tod Jaroslaws des Weisen begann die politische Zersplitterung der Kiewer Rus. Lokale Fürstentümer wie das Fürstentum Galizien-Wolhynien oder das Fürstentum Wladimir-Susdal entwickelten sich unterschiedlich weiter. 1240 wurde Kiew durch die Mongolen zerstört, was das faktische Ende der Kiewer Rus markierte.
Während die Nordost-Fürstentümer später im Zarenreich aufgingen, setzte sich in der heutigen Ukraine eine eigenständige Tradition fort – etwa über das Königreich Ruthenien, das Kosakentum und letztlich den modernen ukrainischen Nationalstaat.
Heutige Relevanz
Die Kiewer Rus steht im Zentrum eines kulturellen und politischen Deutungskampfes. In der Ukraine wird sie als frühe Manifestation einer eigenständigen ukrainischen Zivilisation gesehen. In Russland hingegen wird sie als Wiege einer "dreieinigen russischen Welt" (Russkij Mir) instrumentalisiert – ein Konzept, das auch zur Rechtfertigung aktueller geopolitischer Ambitionen dient.
Historiker plädieren dafür, die Kiewer Rus als ein vielstimmiges, multikulturelles Phänomen zu betrachten, das sich nicht exklusiv einer heutigen Nation zuschreiben lässt – eine Position, die russische Nationalgeschichtsschreibung jedoch oft ignoriert.
Siehe auch
Literatur und Weblinks
- Serhii Plokhy: The Origins of the Slavic Nations: Premodern Identities in Russia, Ukraine, and Belarus, Cambridge University Press.
- Christian Raffensperger: Reimagining Europe: Kievan Rus' in the Medieval World, Harvard Ukrainian Research Institute.
- Bundeszentrale für politische Bildung: Kiewer Rus
- Ukrainetrek: Kievan Rus Overview
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