Gastbeitrag: Dipl.-Geogr. Johannes Winter |
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Ein kritischer Rückblick auf ein halbes
Jahrhundert Entwicklungspolitik
1. Einleitung
Als am 19.12.1961 die erste Entwicklungsdekade durch die
UN-Generalversammlung auf Vorschlag des damaligen US-amerikanischen
Präsidenten John F. Kennedy proklamiert wurde, war die Zuversicht
groß, innerhalb eines Jahrzehnts die wirtschaftlichen und sozialen
Disparitäten zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern
entscheidend verringern zu können [1]. Heute, an der Schwelle zum 21.
Jahrhundert, scheint der ernstgemeinte Optimismus der ersten
Entwicklungsdekade einer weitaus realistischeren, bisweilen
pessimistischen Einschätzung der Entwicklungsproblematik gewichen zu
sein. Zu sehr waren die vorangegangenen Dekaden von einer nahezu
ungebrochenen Anfangseuphorie gekennzeichnet, die jedoch aufgrund
von z.t. deutlich verfehlter Zielsetzungen vielfach in Ernüchterung
umschlug.
Mittlerweile scheint die Botschaft der Weltbankgruppe - "Our
dream is a world free of poverty" - nicht nur ein derzeit
unerreichbares Ziel, sondern schlichtweg illusorisch zu sein.
Während die Weltbank im "World Development Report" von 1990 einen
prozentualen Rückgang der Armut [2] in den Entwicklungsländern
zwischen 1985 und 2000 um annähernd 45 Prozent prognostizierte [3],
musste die bedeutendste multilaterale Institution für
Entwicklungskredite ihre optimistische Annahme zehn Jahre später
revidieren. Obwohl der Anteil der Menschen, die nach Definition der
Weltbank unter der Armutsgrenze leben, prozentual gesehen abgenommen
hat [4], gelang es nicht, das eigentliche Ziel - die signifikante
Reduzierung der absoluten Zahl der Armen - zu realisieren. Im World Development Report 2000/2001 wurde für das Jahr 1998 von annähernd
1,2 Milliarden Menschen ausgegangen, deren täglich zur Verfügung
stehende Mittel weniger als einen US-Dollar betrugen.
Worin liegen die Gründe für den erfolglosen Versuch der bi- und
multilateralen Institutionen und Organisationen, Armut und
Unterentwicklung in der Welt entscheidend zu verringern? Was haben
die großen Entwicklungstheorien bewirkt? Welche Errungenschaften
brachten die zahlreichen Entwicklungsstrategien mit sich?
Von einem grundsätzlichen Scheitern der Entwicklungspolitik der
vier Entwicklungsdekaden zu sprechen [5], wäre ungerechtfertigt.
Vielmehr stellt sich die Frage, welche Faktoren in der
entwicklungspolitischen Debatte entscheidend vernachlässigt worden
sind und worin die Eigeninteressen der Verfechter der
unterschiedlichen Entwicklungstheorien bestanden haben. Die
Motivation für ein Engagement in der staatlichen
Entwicklungszusammenarbeit [6], ob auf bi- oder multilateraler Ebene
umgesetzt, entsteht nicht allein aus einer ethischen Verantwortung
gegenüber dem Schwächeren heraus. Die utilistischen Beweggründe für
die Vergabe von Hilfsmitteln spielen vielfach eine übergeordnete
Rolle. Die Bereitschaft zu Helfen wird grundlegend von einem
rationalen Eigeninteresse des Geberlandes beeinflusst. Dieses wird
vorrangig von politischen und ökonomischen Faktoren bestimmt. Dazu
zählen einerseits geostrategische und machtpolitische Motive - die
nach Ende des Ost-West-Konfliktes allerdings in ihrer ursprünglichen
Ausprägung an Bedeutung verloren haben -, andererseits zunehmend
auch sicherheitspolitische Motive. Die Erkenntnis, dass "sich
Entwicklungsprobleme nicht nur dort auswirken, wo sie entstehen" [7],
sollte Anlass dazu sein, grundlegende globale Missstände wie die
zunehmende Verelendung, das Schwinden der Süßwasserressourcen oder
die Bevölkerungsentwicklung verstärkt in einem globalen Kontext zu
sehen. Die vermehrt auf gewalttätige Weise ausgetragenen regionalen
Konflikte um knapper werdende Ressourcen, Grundbesitz, Nahrung und
Macht führen kurzfristig zu einer Gefährdung des Lebensraumes in den
entsprechenden Regionen. Langfristig werden sich solch fundamentale
Probleme nicht mehr regional lösen lassen, wodurch sie an globaler
Bedeutung hinzu gewinnen werden.
Die Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit besteht darin,
Menschen in Krisenregionen, in peripheren Räumen und am Rande einer
Gesellschaft dahingehend zu unterstützen, dass sie in der Lage sind,
Probleme eigenständig zu lösen und die Bedrohung ihres Lebensraumes
abzuschwächen.
Das Verlangen nach einer "Hilfe zur Selbsthilfe" impliziert einen
richtigen Denkansatz, doch bleibt es oft nur ein allgemein
gehaltenes Postulat. Was bedeutet Hilfe zur Selbsthilfe? Wird sie im
Kontext einer ökonomischen Unterstützung zum Zwecke einer
Kapitalakkumulation im Entwicklungsland gesehen, welche
mittelfristig einen "Trickle-down-effect" bewirken und langfristig
ein sich selbst tragendes Wachstum einleiten soll? Oder wird Hilfe
zur Selbsthilfe so verstanden, dass die Unterstützung von Seiten der
Geberländern darin besteht, sich aus jeglichen nationalen
Angelegenheiten der betreffenden Entwicklungsländer heraus zu
halten? In diesem Verständnis sollen die bi- und multilateralen
Institutionen und Organisationen lediglich als Überbringer von
finanziellen, technischen und personellen Hilfsleistungen dienen,
welche als Wiedergutmachung für die Vergehen der ehemaligen
Kolonialmächte und die dadurch geschaffenen Abhängigkeiten gesehen
sowie für die Einleitung einer autozentrierten,
gesamtgesellschaftlichen Entwicklung benötigt werden.
Die Forderung nach verstärkter Hilfe zur Selbsthilfe entspricht
dem derzeitigen Verständnis, was Entwicklungszusammenarbeit leisten
soll. Jedoch gelingt es mit Hilfe dieses Postulats nicht, die nötige
Distanz zu den "großen Theorien" der 1960er und 1970er Jahre zu
schaffen, da die Formulierung an sich, keine Aussage darüber trifft,
worin diese Hilfe bestehen soll. Auch wird in diesem Kontext nicht
deutlich, in wie weit eine Abgrenzung gegenüber vorangegangenen,
erfolglosen Vorgehensweisen in der Entwicklungspolitik vorgenommen
wird.
Der Entwicklungsbegriff ist einem ständigen Wandel unterzogen.
Innerhalb der vier Entwicklungsdekaden entstanden eine Vielzahl
verschiedener Entwicklungstheorien und Definitionen, die jeweils für
sich beanspruchten, die Phänomene Entwicklung und Unterentwicklung
in ihrer Komplexität erklären zu können.
Der normative und theoretische Bezugspunkt des jeweiligen
Erklärungsansatzes orientieren sich vorrangig an den individuellen
und kollektiven Wertvorstellungen und Interessen seiner Verfechter
und ist abhängig von Raum und Zeit. Daher ist die Suche nach einer
umfassenden, sehr allgemein gehaltenen Definition von Entwicklung
weniger aufschlussreich als vielmehr die Erforschung der
unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Entwicklungspolitik. Die
Analyse und Differenzierung der diversen Akteure und ihrer
Adressaten in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit führen
letztlich zur Gesamtheit aller Entwicklungstheorien zurück. An der
Ausgangsbasis trenne sich - polarisierend dargestellt - der Norden
vom Süden und damit auch die in der Vergangenheit sehr konträren
Entwicklungsansätze; zudem bricht innerhalb der beiden Hemisphären
das Konglomerat auf, das die äußerst heterogene Gruppierung aus
multilateralen und bilateralen, staatlichen und nichtstaatlichen
Organisationen, NIC [8] und LLDC [9] sowie politischen, ökonomischen
und soziokulturellen Ober- und Unterschichten unter dem Begriff der
Akteure und Adressaten der Entwicklungszusammenarbeit zusammenfasst.
Jede Strömung, jede Gruppierung hat ihre individuelle, keineswegs
wertfreie Vorstellung davon, was Gerechtigkeit, Partizipation und
Wohlstand impliziert. Entwicklung ist insofern ein normativer
Begriff, als dass der Inhalt seiner Verwendung darüber Aufschluss
gibt, welche Priorität ihm im Vergleich zu anderen politischen und
gesellschaftlichen Zielen eingeräumt wird und welche individuellen
und kollektiven Wertvorstellungen der einzelnen sozialen Gruppen
bezüglich von Entwicklung bestehen.
Welche Vorstellungen bestehen innerhalb unserer Gesellschaft?
Worin unterscheiden sie sich von denen anderer Gesellschaften? Im
Folgenden soll ein Überblick darüber gegeben werden, womit sich die
internationale Entwicklungspolitik seit Beginn der ersten
Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen beschäftigt hat. Zudem
soll untersucht werden, inwiefern die Erfahrungen und Erkenntnisse
der vier Jahrzehnte dazu beitragen können, die zukünftige
Entwicklungspolitik stärker daran zu orientieren, was sie
gegenwärtig leisten kann und leisten soll.
(c) Dipl.-Geogr. Johannes Winter,
Weltpolitik.net
[1] Für die erste
Entwicklungsdekade (1961-1970; First United Nations Development
Decade, UN-General Assembly, Resolution 1710 (XVI), 19-12-1961)
wurden von den Vereinten Nationen folgende Ziele deklariert: a)
jährlicher Zuwachs des Pro-Kopf-Einkommens (PKE) um drei Prozent; b)
jährlicher Zuwachs des BSP um fünf Prozent; c) Steigerung der
Industrieproduktion um 8,5 Prozent p.a.; d) Steigerung der
landwirtschaftlichen Produktion um vier Prozent p.a.; e)
Verbesserung der Terms of Trade (ToT) um zehn Prozent p.a. (American
Foreign Policy: Current Documents, 1961: 153-156; zitiert bei Nohlen
2000: 208).
[2] Die Weltbank verwendete im World Development
Report von 1990 die "income poverty" als Indikator für die
Armutsentwicklung. Dieser definiert sich über den absoluten bzw.
relativen Anteil der Menschen, die von weniger als einem US-$ pro
Tag leben (people living on less than $1 a day). Die Berechnungen
beziehen sich auf jene Erdteile, in denen nach Verständnis der
Weltbank Armut und Unterentwicklung auftreten. Unberücksichtigt
bleiben folglich die "Industrieländer".
[3] People living on less than $1 a day (millions):
1985: 1 125 (32,7 %); 2000 (estimate): 825 (18,0 %); (World
Development Report 1990: 139).
[4] People living on less than $1 a
day (millions): 1998: 1,199 (24,0 %); (World Development Report
2000/2001: 23).
[5] Vgl. Veröffentlichungen von
Erler 1987 und Dirmoser/Gronemeyer/Rakelmann 1991.
[6] Der Terminus Entwicklungshilfe
wurde im Kontext der entwicklungspolitischen Debatte der 1970er
Jahre durch den Begriff der (finanziellen, technischen und
personellen) Entwicklungszusammenarbeit substituiert.
[7] BMZ 2001,
http://www.bmz.de/themen/motive/index.html
[8] NIC = New Industrialised Countries (=
Schwellenländer).
[9] LLDC = Least Developed Countries (= die am
wenigsten entwickelten Länder);
vgl. LDC = Less Developed Countries (= Entwicklungsländer).
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