Gastbeitrag: Dipl.-Geogr.
Johannes Winter |
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7. Ein halbes Jahrhundert Entwicklungspolitik - Was bedeutet
Entwicklung im 21. Jahrhundert?
Das primäre Ziel, die weltweite Armut und Unterentwicklung
innerhalb eines begrenzten Zeitraumes entscheidend zu reduzieren,
hat sich sowohl nach der ersten Entwicklungsdekade als auch zu
Beginn des 21. Jahrhunderts als unerreichbar herausgestellt. Die
simple Annahme, durch eine Reihe von politischen, ökonomischen und
sozialen Maßnahmen einer gesamten Gesellschaft oder Region zu
Wohlstand zu verhelfen, hat sich nur in einzelnen Fällen als
zutreffend erwiesen. Nach einem halben Jahrhundert
Entwicklungspolitik fällt es schwer, ein positives Resümee zu
ziehen. In der Tat konnte die Not punktuell reduziert werden, haben
einzelne Entwicklungsprogramme und -projekte gegriffen und sind
Menschen dem Zustand der Hoffnungslosigkeit und Verelendung
entkommen. Doch kann von einem Erfolg der Entwicklungspolitik
gesprochen werden, wenn jeder fünfte dieser Erde weniger als einen
Dollar pro Tag zur Verfügung steht?
Es stellt sich allerdings die Frage, ob Anspruch und Wirklichkeit
unter den derzeitig weltweit vorherrschenden politischen und
wirtschaftlichen Strukturen miteinander vereinbar sind? Kann die
Entwicklungspolitik die globalen Probleme eigenständig und
unabhängig lösen? Sind zentrale Themen wie die weltweite Armut und
Verelendung, die Bevölkerungszunahme und ihre Auswirkung auf die
Tragfähigkeit der Erde, die Umweltzerstörung und
Ressourcenknappheit, die staatliche Verschuldung und die
unterschiedlichen Formen von "Bad governance" sowie die gewaltsamen
Konflikte und die Ausweitung von Wanderungsbewegungen die
Handlungsbereiche eines einzigen Politikfeldes? Bereits die
Vergegenwärtigung der Problemstruktur verdeutlicht, dass es der
Mithilfe der unterschiedlichsten Wissenschafts- und Politikfelder
bedarf, um die globale Entwicklungsproblematik annähernd zu lösen.
Insbesondere die ersten beiden Entwicklungsdekaden haben gezeigt,
dass es zur Reduzierung der Armut und Unterentwicklung nicht
ausreicht, nur einen gesellschaftlichen Bereich bei der
Problemlösung einzubeziehen. So haben weder rein ökonomische noch
rein soziologische Konzepte den gewünschten Erfolg gebracht. Das
werden sie auch in Zukunft nicht leisten können, da sich unilineare
Ansätze nur äußerst schwer mit interdisziplinären Vorgehensweisen
vereinbaren lassen. Die Entwicklungspolitik ist jedoch insbesondere
darauf angewiesen, dass ihre Zusammensetzung heterogen, d.h.
interdisziplinär ist. Die unterschiedlichen Entwicklungstheorien
besitzen größtenteils aufgrund ihrer Eindimensionalität, in
Abhängigkeit ihrer Herkunft und Wissenschaftsrichtung, einen nur
begrenzten Wahrheitsgehalt. Die Stadientheorie Rostows trifft
zweifelsohne auf den wirtschaftshistorischen Werdegang
Großbritanniens oder Deutschlands zu, vernachlässigt aber einerseits
die sozialen und ökologischen Kosten der Industrialisierung in
Europa und damit die kritische Hinterfragung, ob dieser westliche
Entwicklungsweg nachahmenswert ist; anderseits reduziert Rostow die
Inhalte von Entwicklung auf ökonomische Aspekte und besitzt daher
nicht die notwendige Sensibilität für das Erfassen der Bedeutung
politischer, sozialer und kultureller Aspekte im
Entwicklungsprozess.
Ob Modernisierung und sozialer Wandel, ob Autozentrismus und
Dissoziation, ob Handel statt Hilfe und Weltmarktorientierung, ob
Strukturanpassung und Konsolidierung, ob grundbedürfnisorientierte
oder armutsorientierte Förderung, ob Nachhaltigkeit und
Schuldeninitiative - die Entwicklungspolitik und
Entwicklungszusammenarbeit hat in 50 Jahren eine Vielzahl
unterschiedlicher Mittel und Paradigmen gewählt, um die Verelendung
in großen Teilen der Erde einzudämmen. Die weltweite Armut ist
allerdings nicht geringer geworden, entgegen der Prognosen solch
renommierter Quellen wie dem "World Development Report" (1990). Was
sich allerdings verändert hat, ist der Umgang mit der
Entwicklungsproblematik. Vier Entwicklungsdekaden haben ein großes
Maß an Informationen, Erkenntnissen, Enttäuschungen und Erfolgen
geliefert und eine Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungstheorien
und -strategien hervorgebracht. Dies hat dazu beigetragen, dass von
unilinearen Ansätzen der frühen Dekaden Abstand genommen wurde, dass
die Entwicklungspolitik interdisziplinärer geworden ist und neuere
Entwicklungsmodelle dies in Form von multilinearen Ansätzen
umzusetzen versuchen. Selbst wenn die Zahlen und Prognosen über das
Ausmaß der weltweiten Armut keinen Anlass zur Zuversicht geben; ein
halbes Jahrhundert Entwicklungspolitik hat dazu beigetragen, daß das
Verständnis von Entwicklung differenzierter geworden ist.
So erfreulich die inhaltliche Weiterentwicklung der internationalen
Entwicklungspolitik ist, so unerfreulich und problematisch erscheint
ihr (zwischenzeitlicher) Bedeutungsverlust innerhalb der
internationalen Politik. Nach Ende des Ost-West-Konflikts sind nicht
nur real existierende und fiktive Grenzen zwischen den beiden
politischen Polen weggefallen, sondern auch Motive zur Erhaltung
dieser Blockeinteilung der Erde. Die Entwicklungspolitik als aktives
und/oder passives Handlungsfeld der beiden Supermächte hat zu Beginn
der 1990er Jahre aufgehört zu existieren. Die
Entwicklungszusammenarbeit bekam dies in Form von umfangreichen
Mittelkürzungen und einem allgemeinen Bedeutungsverlust als
eigenständiges Politikfeld zu spüren. Das Erreichen des 0,7%-Ziels
ist angesichts der weltweit kontinuierlich abnehmenden Öffentlichen
Entwicklungshilfe/-zusammenarbeit (ODA) nicht nur in weite Ferne,
sondern auch aus dem Blickfeld der staatlichen
Entwicklungszusammenarbeit gerückt. Statt dessen tauchen neue
Zielsetzungen auf: So lautet der jüngste Entwicklungsplan der
Vereinten Nationen, die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 zu
halbieren [67]. Es ist verwunderlich, dass angesichts des knapp
bemessenen finanziellen Rahmens der ODA die Ziele nicht
realistischer, d.h. verhaltener, sondern ambitionierter werden.
Die Entwicklungspolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts liefert im
engeren Sinne kein neues Entwicklungsparadigma. Was Entwicklung
heißt, lässt sich nicht auf einen zentralen Schlüsselbegriff
reduzieren. Im Gegenteil, erst die Addition der
Entwicklungsparadigmen der vorangegangenen Dekaden bringt uns den
Inhalten des derzeitigen Entwicklungsbegriffes deutlich näher.
Entwicklung ist und bleibt ein normativer Begriff. Die Erfahrungen,
Erfordernisse und Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte bilden die
Grundlage für den Entwicklungsbegriff des 21. Jahrhunderts. Die
Vergangenheit dahingehend zu nutzen, dass sie uns stärker davor
bewahrt, dieselben Fehler in Zukunft wieder zu begehen, bedeutet,
sie kontinuierlich in das zukunftsorientierte Denken und Handeln
einzubeziehen. Diese Notwendigkeit zu berücksichtigen, wird die
weltweite Armut nicht aktiv reduzieren, jedoch dazu beitragen, dass
die zukünftig angewandten Maßnahmen und Strategien zur Abschwächung
der globalen Disparitäten erfolgreicher und rascher greifen und
damit die Probleme langfristig lösbarer werden.
(c) Dipl.-Geogr. Johannes Winter,
Weltpolitik.net
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[67] Vgl. Aktionsprogramm "Armut bekämpfen" des
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