Gastbeitrag: Dipl.-Geogr.
Johannes Winter |
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2. Vom Entstehen der Entwicklungspolitik als eigenständigem
Politikfeld
2.1. Dekolonisation und "State-building"
Das Aufkommen der entwicklungspolitischen Debatte in den 1950er
Jahren stand in direktem Zusammenhang mit der im Anschluss an den
Zweiten Weltkrieg einsetzenden Dekolonisation. Innerhalb von zwei
Jahrzehnten wurden mehr als fünfzig Kolonien in die politische
Unabhängigkeit entlassen. Es handelte sich dabei in der Regel um
Staaten, die aufgrund der jahrhundertlangen Fremdbeherrschung
kurzfristig nicht in der Lage waren, eine eigenständige und
unabhängige Entwicklung zu vollziehen. Das Erlangen der Souveränität
implizierte in der Mehrzahl der Fälle nur eine formale Befreiung von
der Fremdbestimmung. Sowohl die politische als auch die
soziokulturelle und ökonomische Bindung zur ehemaligen Kolonialmacht
blieben weitestgehend bestehen [10]. Aus Sicht der einstigen
Kolonialmacht gaben einerseits geostrategische und machtpolitische
Motive den Ausschlag dafür, sich weiterhin in den aufgegebenen
Kolonien zu engagieren. Anlas dazu gaben der aufkommende
Ost-West-Konflikt und die damit in Verbindung stehende Suche nach
Bündnispartnern. Andererseits blieb die asymmetrische Einbindung der
einstigen Kolonien in die internationale Arbeitsteilung im Rahmen
des Weltwirtschaftssystems in ihrer grundsätzlichen Form auch nach
Ende der Kolonialzeit bestehen. Auch wenn der ursprüngliche
Handelskolonialismus außer Kraft gesetzt wurde, und
binnenwirtschaftliche Strukturen neben exportwirtschaftlichen an
Bedeutung gewannen, so trat doch kein grundlegender Strukturwandel
ein. Kennzeichnend bleibt noch heute in vielen ehemaligen Kolonien
die deutliche Konzentration auf wenige Primärgüter sowie eine
geringe Exportdiversifikation. Der Bedarfs an Konsumgütern,
weiterverarbeiteten Produkten und Dienstleistungen kann nur durch
Zukäufe aus den Industrieländern mehr oder weniger gedeckt werden.
Die Dekolonisation bewirkte eine intensive Umbruchphase im
dekolonialisierten Staat, in deren Verlauf es zu einer
Neustrukturierung der Gesellschaft und zum Wiedererstarken
präkolonialer Strukturen kam. Das Aufbrechen kolonialer Strukturen
offenbarte die Heterogenität der Gesellschaft. Zu Tage kam eine
Gesellschaftsstruktur - bestehend aus heterogenen ethnischen,
kulturellen und religiösen Gruppen, deren Bezug zueinander nicht
durch eine gemeinsame Kultur und Identität hergestellt wird, sondern
durch jenes Territorium, welches die Kolonialmacht ihnen unter
Missachtung der lokalen Strukturen zugebilligt hatte. Dieses
Konglomerat brach nach Beendigung der Kolonialherrschaft vielerorts
auf. Die völkerrechtlich souveränen Staaten besaßen größtenteils
keinen nationalen Charakter. Daher ist der Prozess des "Nationbuilding"
selbst ein halbes Jahrhundert nach Ende der Kolonialzeit nicht
überall abgeschlossen. Im Gegenteil, der Umgang mit der gewonnenen
Freiheit und die Aussicht auf Selbstbestimmung ließ eine Vielzahl
von individuellen und kollektiven Vorstellungen über den
Soll-Zustand des Staates ans Tageslicht kommen. Es handelte sich um
Positionen und Forderungen, die durch den autoritären Führungsstil
der Kolonialmacht in der Vergangenheit unterdrückt worden waren.
Die sukzessive Auflösung der europäischen Kolonialreiche nach
Beendigung des Zweiten Weltkrieges resultierte einerseits aus dem
wachsenden politischen und gesellschaftlichen Widerstand in den
Kolonien, andererseits aus der zunehmenden Diskreditierung
kolonialistischer und nationalistischer Interessen in den
europäischen Staaten.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen wies in der
sogenannten Entkolonialisierungsdeklaration auf die "Notwendigkeit
[hin], den Kolonialismus in allen Erscheinungsformen schnell und
bedingungslos zu beenden" (UN-General Assembly, Resolution 1514
(XV), 14-12-1960 [11]). Es dauerte allerdings bis zum Beginn der
1980er Jahre [12], bis von einem weitgehenden Abschluss der
Dekolonisation gesprochen werden konnte. Mehr als 80 Nationen wurden
seit 1945 in die Freiheit entlassen, 17 Kleinst- und Inselstaaten
verbleiben somit in politischer und größtenteils auch
sozioökonomischer Abhängigkeit (http://www.un.org/Depts/dpi/decolonization/main.htm).
2.2. Das Aufkommen der entwicklungspolitischen Debatte im Kontext
des Ost-West-Konfliktes und der Dekolonisation
Im Zuge der Dekolonisation wurden in den nun unabhängigen Staaten
verstärkt Forderungen nach politischer und sozioökonomischer
Partizipation laut. Zudem entwickelte sich ein bisher nicht
wahrnehmbares Nationalbewusstsein. Begleitet wurden diese
Entwicklungen von z.T. unrealistisch hohen Erwartungen der
betroffenen Bevölkerung bezüglich gesellschaftlichen Fortschrittes
und des allgemeinen Wohlstandes. Vorstellungen von einer
nachholenden, das westliche Modell imitierenden Entwicklung tauchten
sowohl in den ehemaligen Kolonien als auch - und das aus einer ganz
anderen Motivation heraus - in den einstigen Kolonialmächten auf.
Während breite Bevölkerungsschichten in der postkolonialen
Gesellschaft vor allem nach der Befriedigung der "Basic needs" und
einem damit in Zusammenhang stehenden Wohlstands- und
Partizipationszuwachs strebten, stellte sich der nach dem Zweiten
Weltkrieg aufkommende Ost-West-Konflikt als entscheidende
Antriebskraft für das Beibehalten der "besonderen Beziehung"
zwischen den europäischen Mutterländern und den einstigen
Überseegebieten heraus. Sowohl der christliche Missionsgedanke, die
ethische Verantwortung und das Schuldbewusstsein gegenüber der
Kolonie als auch das große Interesse an der Beibehaltung der
einseitigen Wirtschaftsbeziehungen waren wichtige Faktoren für das
europäische Engagement in Lateinamerika, Afrika und Asien im
Anschluss an die Kolonialzeit. Die Intensität ihrer Durchführung der
Aufbau- und Entwicklungshilfen ist jedoch vorrangig auf die
weltpolitische Lage seit 1945 zurückzuführen.
Die Forderung des US-amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman
im Rahmen der sogenannten Truman-Doktrin, "die freien Völker zu
unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete
Minderheiten oder durch den Druck von außen widersetzen" [13],
entfachte eine breit geführte Diskussion über den Umgang mit den dekolonialisierten Staaten. Aufgrund der militärischen und
ideologischen Einflussnahme der Sowjetunion nach Ende des Zweiten
Weltkrieges [14], welche die USA als Verletzung des Jalta-Abkommens
ansahen, wuchsen die Befürchtungen in der (politisch) westlichen
Welt vor einem "Domino-Effekt", der sich von den sowjetisch
beeinflussten Staaten auf geographisch, politisch, wirtschaftlich
oder soziokulturell benachbarte Regionen hätte auswirken können. Das
als Marshall-Plan bekannt gewordene "European Recovery Program"
(ERP) widmete sich - wie es der Name bereits verdeutlicht - allein
dem Wiederaufbau der europäischen Staaten unter Ausschluss der
kommunistischen Staaten [15]. Allerdings wurde die dem Marshall-Plan
zugrunde liegende Wachstumstheorie zugunsten einer
Modernisierungstheorie erweitert, die die gesellschaftlichen und
politischen Unterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern
mit einbezog.
(c) Dipl.-Geogr. Johannes Winter,
Weltpolitik.net
[10] Ein Beispiel für die Vernetzung von einstiger
Kolonialmacht und Kolonie ist das Commonwealth of Nations, das heute
neben Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland 48
Entwicklungsländer umfasst, welche eine historische Beziehung zu
Großbritannien aufweisen.
[11]
http://www.un.org/Depts/dpi/decolonization/docs/res1514.htm
[12] Als Resultat erfolgreichen Widerstandes der Unterdrückten
entließ Portugal 1974/75 die fünf afrikanischen Kolonien Angola,
Mosambik, Guinea-Bissau, Kap Verden und São Tomé e Príncipe sowie
das kurz darauf durch Indonesien besetze asiatische Osttimor in die
Unabhängigkeit. Damit endete im weitesten Sinne die 1956/1957 mit
den Unabhängigkeitserklärungen Sudans und der Goldküste (Ghana)
einsetzende Dekolonisationswelle afrikanischer Staaten, die im
engeren Sinne erst mit der völkerrechtlichen Anerkennung Rhodesiens
(Zimbabwe, 1980) und Südwestafrikas (Namibia, 1990) beendet war.
[13] "I believe that it must be the policy of the United States to
support free peoples who are resisting attempted subjugation by
armed minorities or by outside pressures" (Harry S. Truman am
12.3.1947 vor dem US-amerikanischen Kongress;
http://www.yale.edu/lawweb/avalon/trudoc.htm)
[14] Die sowjetischen Aktivitäten bezogen sich v.a. auf Osteuropa
und Teile Südosteuropas (Griechenland, Türkei), die Karibik (Kuba)
sowie auf die Chinesische Revolution (1911-1949), den Korea-Krieg
(1950-1953) sowie den Indochina- (1946-1954) und Vietnam-Krieg
(1964-1973).
[15] Die UdSSR lehnte das Europäische Wiederaufbauprogramm als
"Instrument des Dollarimperialismus" ab und untersagte den
Regierungen Polens und der CSSR die bereits zugesagte Teilnahme an
der Pariser Konferenz zum Marshall-Plan (12.7.1947;
www.willy-brandt.org/biographie/marshallplan.html). Die
Sowjetunion hegte die Befürchtung, der Marshall-Plan diene dazu, den
sowjetischen Einfluss in Europa zu unterminieren.
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